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Kündigung in der Regel nur nach Abmahnung

Kündigung ohne vorherige Abmahnung nicht wirksam

Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil vom 05.05.2017, Aktenzeichen 14 Sa 608/16

Bevor eine außerordentliche oder ordentliche, fristgemäße Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung ausgesprochen wird, ist regelmäßig eine Abmahnung erforderlich. Bei Vertragspflichtverletzungen durch steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers ist grundsätzlich anzunehmen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann.

Einem Schichtleiter in der medizinischen Produktion wurde außerordentlich und sogleich hilfsweise ordentlich wegen überzogener Pausenzeiten gekündigt. Die überzogenen Pausenzeiten basierten auf Kartenspiel im Werkbereich. Entsprechend der Gesamtbetriebsvereinbarung waren sämtliche Glücksspiele im Werkbereich nicht gestattet.

Der Schichtleiter reichte beim Arbeitsgericht eine Kündigungsschutzklage ein. Das Arbeitsgericht stellte fest, das Arbeitsverhältnis sei weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche Kündigung aufgelöst worden. Bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens habe die Arbeitgeberin den Schichtleiter zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen. Für den Monat August 2015 habe die Arbeitgeberin die ausstehende anteilige Vergütung zu zahlen.

Für die Kündigung liege kein wichtiger Grund nach § 626 BGB Absatz 1 (Bürgerliches Gesetzbuch) vor, der die Kündigung nach § 1 Absatz 1 Satz 2 KschG (Kündigungsschutzgesetz) sozial rechtfertige. Der Schichtleiter habe zwar eine Vertragspflichtverletzung begangen, die an sich geeignet sei, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Nach den Umständen des Streitfalls hätte jedoch eine Abmahnung als Reaktion der Arbeitgeberin ausgereicht. Da die erforderliche Abmahnung nicht ausgesprochen wurde, sei die Kündigung auch nicht als verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund habe der Schichtleiter einen Anspruch auf tatsächliche Weiterbeschäftigung. Der finanzielle Einbehalt durch die Arbeitgeberin für die Augustvergütung sei nicht gerechtfertigt gewesen.

Die Arbeitgeberin legte gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Sie ergänzte ihren Schriftsatz mit dem Antrag zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung. Das Arbeitsgericht hätte verkannt, die Arbeitgeberin habe nicht davon ausgehen können, dass der Schichtleiter sein Verhalten im Hinblick auf die Pausenzeiten in Folge einer Abmahnung ändere. Der Schichtleiter habe auch nach dem Gespräch mit seinem Vorgesetzten sein Verhalten fortgesetzt. Aus der Beharrlichkeit der Überziehung von Pausenzeiten ergebe sich, dass eine Abmahnung zu keiner Verhaltensänderung des Schichtleiters geführt hätte und damit nicht erforderlich war.

Der Schichtleiter habe durch die Überziehung der Arbeitszeiten seine Arbeitskraft zurückgehalten und damit einen Nachteil gegenüber der Arbeitgeberin verursacht. Mit der Feststellung, das Arbeitsverhältnis sei beendet, bestehe für den Schichtleiter eine Rückzahlungspflicht der anteiligen Fortbildungskosten für den Monat August 2015.

In seiner Klageerwiderung erklärte der Schichtleiter, eine Abmahnung sei nur dann entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden könne, eine Voraussetzung, die hier nicht vorliege. Insoweit sei auch zu berücksichtigen, dass bei der Arbeitgeberin kein Arbeitszeiterfassungssystem bestehe, das der Schichtleiter vorsätzlich und wissentlich missbraucht habe. Es liege vielmehr eine fahrlässige Pflichtverletzung vor.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) entschied, die Kündigungsschutzklage sei begründet. Die erhebliche Überziehung der Pausenzeiten in vier Nachtschichten im August 2015 sei an sich geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 BGB zu bilden. Eine außerordentliche Kündigung sei aber ohne vorherige Abmahnung nicht gerechtfertigt.

Der Schichtleiter habe zwar auch nach dem Gespräch mit seinem Vorgesetzten in hohem Umfang seine Pausenzeiten verletzt. Daraus könne nicht geschlossen werde, er werde dies auch tun, wenn ihm für den Wiederholungsfall die Kündigung angedroht worden wäre.
Bei Vertragspflichtverletzungen durch steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers sei grundsätzlich anzunehmen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden könne.

Die außerordentliche ebenso wie die ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setze selbst dann regelmäßig eine Abmahnung voraus, wenn es sich um Störungen des Vertrauensbereichs durch Straftaten gegen die Arbeitgeberin handele. Eine Ermahnung durch den Vorgesetzten habe nicht die gleiche Wirkung wie eine Abmahnung. Eine Abmahnung sei auch dann erforderlich, wenn man davon ausgehe, der Schichtleiter habe um Geld Karten gespielt. Die Pflichtverletzung sei nicht so erheblich, dass selbst deren erstmalige Hinnahme der Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar wäre.

Ein über lange Jahre ungestörtes Vertrauensverhältnis werde nicht notwendig schon durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört. Der Schichtleiter war 12 Jahre bei der Arbeitgeberin bis zum Gespräch am 1. Juli 2015 ohne Beanstandungen beschäftigt. Trotz des erheblichen Gewichts der Vertragspflichtverletzungen könne angesichts der konkreten Umstände des Vorfalls aus Sicht eines objektiven Betrachters nicht angenommen werden, das Vertrauen in die ordnungsgemäße Erfüllung der Vertragspflichten durch den Schichtleiter sei derart erschüttert, dass ein künftig erneut störungsfreies Miteinander der Parteien nicht infrage käme.

Der Schichtleiter habe die Pausenzeiten jeweils um ein Vielfaches überschritten. Dazu komme, dass teilweise andere Spielteilnehmer das Spiel vor dem Schichtleiter verließen, sodass dieser auch deshalb merken musste, dass seine Pause vorbei war. Richtig sei auch, dass der Arbeitgeberin ein Schaden entstand, weil sie Arbeitszeit vergütete, die der Schichtleiter nicht leistete. Von einer Vorbildfunktion des Schichtleiters könne vor dem Hintergrund dieses Verhaltens für Mitarbeiter, die er zu überwachen hat, nicht die Rede sein kann. Allerdings fehle dem Vorgehen des Schichtleiters das Täuschungselement, sodass kein Arbeitszeitbetrug vorliege.

Das Arbeitsverhältnis sei auch nicht durch die ordentliche Kündigung aufgelöst worden. Es erfolgte keine Abmahnung. Somit sei die verhaltensbedingte Kündigung nicht sozial gerechtfertigt. Eine ordentliche Anhörung des Betriebsrats sei auch nicht erfolgt. Die Kündigung wurde vor Beendigung der Wochenfrist ausgesprochen. Der Betriebsrat hatte noch keine abschließende Stellungnahme abgegeben. Ohne Anhörung des Betriebsrats ist eine ausgesprochene Kündigung unwirksam.

Erklärt der Betriebsrat nicht ausdrücklich, dass eine erfolgte Stellungnahme abschließend sei, ist deren Inhalt durch Auslegung entsprechend §§ 133, 157 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) zu ermitteln. Nur wenn die Auslegung ergibt, dass sich der Betriebsrat bis zum Ablauf der Anhörungsfrist nicht noch einmal ergänzend äußern möchte, kann die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer vor Ablauf der Wochenfrist wirksam kündigen. Auch wenn der Betriebsrat sich die Ergänzung einer bereits übermittelten Stellungnahme nicht ausdrücklich vorbehalten hat, ist er grundsätzlich nicht auf eine einmalige Äußerung beschränkt, sondern kann innerhalb der Wochenfrist eine bereits abgegebene Stellungnahme jederzeit erweitern.

Bei einem Widerspruch des Betriebsrats darf die Arbeitgeberin nur dann von einer abschließenden Stellungnahme ausgehen, wenn hierfür besondere Anhaltspunkte vorliegen oder der Arbeitgeber sich ausdrücklich beim Betriebsrat erkundigt hat, ob der Widerspruch als abschließende Stellungnahme anzusehen sei und dieser dies bejaht hat. Es komme nicht darauf an, ob die Arbeitgeberin davon ausgehen konnte, dass der Betriebsrat keine weitere Erörterung des beabsichtigten Kündigungsausspruchs verlangte.

Die Auslegung des Betriebsratswiderspruchs vom 31. August 2015 ergebe, dass in diesem keine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats lag. Der Betriebsrat zählte verschiedene Punkte auf, die ihn zum Widerspruch gegen die Kündigung bewogen haben. Dabei wies er ausdrücklich darauf hin, dass aus seiner Sicht eine Vertragspflichtverletzung vorliege, er aber andere Möglichkeiten sehe, um diese zu sanktionieren. Es hätte eine Abmahnung ausgesprochen werden müssen.

Vor dem Hintergrund dieser Widerspruchsbegründung musste die Arbeitgeberin davon ausgehen, der Betriebsrat werde sich gegebenenfalls weiter zur beabsichtigten Kündigung äußern, um beispielsweise weitere Maßnahmen vorzuschlagen, die die Arbeitgeberin statt einer Kündigung ergreifen könnte oder die vorgeschlagenen Maßnahmen, etwa den in den Raum gestellten Entzug der Vorgesetztenfunktion, zu konkretisieren. Der Betriebsratswiderspruch enthalte auch keinen abschließenden Satz, der darauf hindeuten könnte, dass der Betriebsrat seine Äußerung als abschließend ansieht.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien sei auch nicht auf den Auflösungsantrag der Arbeitgeberin zum Ablauf des 31. Dezember 2015 gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Voraussetzung einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf den Antrag des Arbeitgebers hin sei, dass die Kündigung ausschließlich sozialwidrig ist, sich die Unwirksamkeit also nicht auch aus anderen Gründen im Sinne des § 13 Absatz 3 KSchG ergebe. Die Kündigung ist jedoch nach den Darlegungen des LAG bereits gemäß § 102 Absatz 1 Satz 3 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) unwirksam.

Die Arbeitgeberin habe die restliche Vergütung für den Monat August 2015 zu zahlen. Der Anspruch sei gemäß § 611 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) entstanden und weder durch Verrechnung noch durch Aufrechnung untergegangen.

Die Arbeitgeberin habe den Schichtleiter weiter zu beschäftigen. Obsiegt der Arbeitnehmer mit der Bestandschutzklage in erster Instanz, überwiege sein Interesse an der Weiterbeschäftigung das Interesse der Arbeitgeberin, ihn nicht zu beschäftigen, bis zum Ergehen einer rechtskräftigen Entscheidung. Der Anspruch sei auf die vertragsgemäße Beschäftigung gerichtet. Besondere Interessen an einer Nichtbeschäftigung des Schichtleiters, die eine abweichende Bewertung rechtfertigen könnten, habe die Arbeitgeberin in ihrer Berufungsbegründung nicht dargelegt.

Die Revision zu diesem Urteil wurde nicht zugelassen.