BLOG RECHTSPRECHUNG

Arbeitszeit nach Tarifvertrag

Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich

Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 13.11.2019, Aktenzeichen 19 Sa 1721/18

Arbeitsbedingungen, welche durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Ist der Umfang der regelmäßigen Arbeitszeit durch Tarifvertrag geregelt, kann der Umfang der Arbeitszeit nicht durch eine Betriebsvereinbarung erhöht werden.

Ein Mitarbeiter war laut Arbeitsvertrag vom Juni 1994 zu einer monatlichen Arbeitsleistung von 156,60 Stunden (36 Stunden-Woche) verpflichtet. Die Arbeitszeit richtete sich nach dem innerbetrieblichen Schichtsystem.

Mit dem Abschluss der Betriebsvereinbarung „Prämienzahlungen“ zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat Im Februar 2003 entfielen die bisherigen Regelungen zum Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die Arbeitgeberin stellte im gleichen Jahr die Zahlungen von Urlaubs- und Weihnachtsgeld ein.

Im Juni 2003 wurde eine Rahmenbetriebsvereinbarung zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort abgeschlossen. Der enthaltene Maßnahmekatalog umfasste die Einführung von Teamarbeit, Erhöhung der Wochenarbeitszeit, Einführung von Zeitkonten sowie eine garantierte Lohn- und Gehaltserhöhung von mindestens 1,3 %.

Die Wochenarbeitszeit wurde um täglich 30 Minuten auf 8 Stunden ohne Lohnausgleich angehoben. Für das Arbeitszeitkonto wurde eine Bandbreite von minus 40 Stunden bis plus 80 Stunden vorgegeben. Für Überstunden, die in das Zeitguthaben einflossen, wurden keine Zuschläge bezahlt.

In den Jahren 2014 bis 2017 leistete der Mitarbeiter Arbeitszeit in einer 40-Stunden Woche, entsprechend 174 Stunden im Monat.

Das Arbeitsgericht stellte fest, es seien 832 Plusstunden in das Arbeitszeitkonto des Mitarbeiters einzustellen, da die Arbeitszeit des Mitarbeiters monatlich 156,60 Stunden betrage. Diese ergebe sich aus dem Arbeitsvertrag. Der Mitarbeiter habe regelmäßig 4 Stunden pro Woche Mehrarbeit geleistet, die über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 36 Stunden hinausgeht. Entsprechend der Betriebsvereinbarung zur Einführung der 40 Stundenwoche und eines Arbeitszeitkontos seien die Überstunden nicht zu vergüten, sondern in das Arbeitszeitkonto einzustellen. Überstundenzuschläge für die geleistete Mehrarbeit seien nicht zu gewähren. Ein Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld im streitigen Zeitraum bestehe nicht. Die Arbeitgeberin wurde zur Nachzahlung der Entgeltkürzungen im Zeitraum März bis Juli 2018 verpflichtet, da sie dem Vortrag des Mitarbeiters nicht substantiiert entgegengetreten sei.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legte der Mitarbeiter Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Die Arbeitgeberin hatte gegen das Urteil des Arbeitsgerichts ebenfalls Berufung eingelegt.

Der Mitarbeiter beanspruchte weiterhin Überstundenvergütung einschließlich der Zahlung von Überstundenzuschlägen in Höhe von 25%. Die Betriebsvereinbarung sei unwirksam, da die einschlägigen Tarifverträge die Einführung von Arbeitszeitkonten regelten. Zudem sehe die Betriebsvereinbarung ausdrücklich vor, dass Überstunden oberhalb der 80-Stunden Grenze nach dem aktuellen Stundensatz plus 25% vergütet würden.

In seinem Arbeitsvertrag sei die Einführung eines Arbeitszeitkontos nicht vorgesehen, hingegen sei die sofortige Auszahlung des Arbeitsentgeltes vereinbart. In den Jahren 1991 bis 2003 habe die Arbeitgeberin Überstunden ab der ersten Stunde mit 25% Überstundenzuschlag vergütet. Somit sei eine betriebliche Übung entstanden. Ihm stehe auch die Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld im streitigen Zeitraum zu.

Der Mitarbeiter beantragte die Zahlung von Überstundenvergütung für den streitigen Zeitraum, hilfsweise die Gutschrift von 832 Plusstunden auf das Arbeitszeitkonto. Weiterhin die Zahlung von Schichtzuschlägen.  Urlaubs- und Weihnachtsgeld seien auch über den Zeitpunkt der Klageerhebung hinaus zukünftig gemäß Tarifvertrag zu zahlen.

Die Arbeitgeberin beantragte die komplette Klageabweisung. Es sei zumindest zu einer konkludenten Änderung des Arbeitsvertrages (durch schlüssiges Verhalten) mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden gekommen. Über einen Zeitraum von 13 Jahren habe der Mitarbeiter in einer 40-Stunden Woche gearbeitet. Jedenfalls sei die Betriebsvereinbarung zur Umsetzung der 40-Stunden Woche und Einführung von Zeitkonten anzuwenden. Diese Regelung bestimme, dass alle Arbeitszeiten, die über der individuellen, regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit liegen, dem Zeitkonto gutgeschrieben werden. Nur im Falle der Auszahlung würden Überstunden mit 25% Zuschlag vergütet. Bezüglich der Zahlung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld sei keine betriebliche Übung entstanden. Eine Nachwirkung tariflicher Regelungen könne nicht eintreten, da die Arbeitgeberin nicht tarifgebunden sei. Im Übrigen seien die Ansprüche verwirkt.

Das LAG entschied, die Berufung der Arbeitgeberin bezüglich der Zahlung von Entgeltkürzungen für die Monate März bis Juli 2018 sei unbegründet, da diese Berufung nicht ausreichend begründet wurde. Die Arbeitgeberin habe nicht vorgetragen, in welchen Punkten rechtlicher und tatsächlicher Art und aus welchen Gründen das angefochtene Urteil insoweit fehlerhaft sei.

Die Berufung des Mitarbeiters habe teilweise Erfolg. Abweichend von der Entscheidung des Arbeitsgerichts stehe ihm ein weiterer Zahlungsanspruch für von ihm geleistete Sonderschichten in den Kalenderjahren 2014 und 2015 zu. Hingegen bestehe kein Vergütungsanspruch für geleistete Mehrarbeit in den Jahren 2014 bis 2017 zuzüglich 25% Überstundenzuschlag. Auch die Zahlungsansprüche für Urlaubs- und Weihnachtsgeld seien unbegründet.

Das Arbeitsgericht habe zurecht festgestellt, dass die die Arbeitszeit des Mitarbeiters 156,60 Stunden pro Monat, bzw. 36 Stunden (Monatsstundensoll geteilt durch 4,35) in der Woche beträgt, sowie insgesamt 832 Plusstunden in das Arbeitszeitkonto des Klägers einzustellen seien.

Es gehe um die Klärung der Frage, welche Arbeitszeit vereinbart sei bzw. welchen monatlichen Arbeitsumfang der Mitarbeiter zu erbringen habe.

Die Vereinbarung im Arbeitsvertrag von Juni 1993 bezüglich des monatlichen Arbeitsumfanges von 156,60 Arbeitsstunden sei weder konkludent noch durch Betriebsvereinbarungen abgeändert worden. Die Vergütungspflicht bestimme sich nach § 612 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch).

Die Betriebsvereinbarungen „Rahmen BV“ und „BV Arbeitszeit“ würden gegen § 77 Absatz 3 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) verstoßen und könnten daher keine Änderung des Umfangs der geschuldeten Arbeitspflicht herbeiführen. Arbeitsbedingungen, welche durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.

Bei einem Tarifvertrag, der seinen fachlich-betrieblichen Geltungsbereich auf einen bestimmten, abstrakt beschriebenen Wirtschaftszweig erstreckt, hänge die Sperrwirkung des § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG für Betriebsvereinbarungen bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber nur davon ab, ob der fragliche Betrieb der betreffenden Branche angehört.

Die in der streitgegenständlichen Betriebsvereinbarung geregelte Erhöhung der Arbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich stelle eine sonstige Arbeitsbedingung bzw. Entgeltregelung im Sinne des § 77 Absatz 3 dar. Solche Regelungen würden im Bereich der Metall- und Elektroindustrie üblicherweise von den Tarifparteien der Metall- und Elektroindustrie vereinbart und seien konkret in den Tarifverträgen der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie bzw. der Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen vereinbart.

Die Arbeitsvertragsparteien hätten die vereinbarte Arbeitszeit auch nicht konkludent abgeändert. Eine solche konkludente Änderung der vertraglichen Regelung setze ein Vertragsangebot der Arbeitgeberin voraus. An einem solchen fehle es im vorliegenden Fall. Die Arbeitgeberin habe dem Mitarbeiter zu keinem Zeitpunkt eine Vertragsänderung unterbreitet oder auf eine aus ihrer Sicht eintretende Änderung der Vertragskonditionen hingewiesen. Die Arbeitgeberin habe zu keinem Zeitpunkt den Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass sich die zukünftige Arbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich, unter Beibehaltung der bisherigen Vergütung, verändere und aus ihrer Sicht damit eine Vertragsänderung der vereinbarten Arbeitszeit verbunden sei. Vielmehr sei vorliegend die Betriebsvereinbarung vom 2. September 2003 im Betrieb eingeführt und in Vollzug gebracht und von den Parteien gelebt worden.

Es könne auch kein Änderungsangebot der Arbeitgeberin in der Umsetzung der unwirksamen Betriebsvereinbarung gesehen werden. In den Fällen, in welchen ausschließlich Belastungen für die Arbeitnehmer in einer unwirksamen Betriebsvereinbarung begründet werden, komme nach Auffassung der Kammer eine vertragliche Einheitsregelung (Gesamtzusage oder gebündelte Vertragsangebote) nicht in Betracht.

Der Mitarbeiter erbrachte im Streitfall eine Arbeitsleistung, für die er unter Anwendung eines objektiven Beurteilungsmaßstabes eine zusätzliche Vergütung nach den Bedingungen seines Arbeitsvertrages erwarten durfte. Er leistete weder Dienste höherer Art noch erzielte er eine deutlich herausgehobene Vergütung.

Vergütungsansprüche für die geleistete Mehrarbeit seien nicht gerechtfertigt, da entsprechend der BV Arbeitszeit alle Arbeitszeiten, die über die individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeiten hinausgingen, dem Zeitkonto gutgeschrieben würden. Ein Zahlungsanspruch bestehe erst im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die BV Arbeitszeit sei bezüglich der Einführung von Arbeitszeitkonten teilwirksam. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Angelegenheiten, die der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, auch dann durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden, wenn einschlägige tarifliche Regelungen bestehen, die beim Arbeitgeber mangels Tarifbindung nicht normativ gelten.

Gemäß der teilwirksamen BV Arbeitszeit vom 2. September 2003 seien während des bestehenden Arbeitsverhältnisses erbrachte Mehrarbeitszeiten dem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben. Dies gelte auch für oberhalb eines Plusbereichs von 80 Stunden angefallene Mehrarbeitsstunden.

Der Anspruch des Mitarbeiters sei auch nicht verwirkt. Die Arbeitgeberin habe nicht dargelegt, dass sie Kenntnis von möglichen Ansprüchen des Mitarbeiters hatte. Hierzu hätte sie vortragen müssen, dass ihr die Unwirksamkeit der Regelung in der Betriebsvereinbarung zur Erhöhung der Arbeitszeit positiv bekannt gewesen sei und sie daher darauf vertrauen konnte, der Kläger würde seine Ansprüche nicht geltend machen. Die Arbeitgeberin habe nicht dargelegt, dass sie aufgrund eigener Dispositionen etwaige Ansprüche des Klägers nicht erfüllen könne.

Dem Mitarbeiter stehe auch ein Zahlungsanspruch für geleistete zuschlagspflichtige Sonderschichten, nämlich Spät-, Nacht-, Sonntags-, Feiertags- und Mehrarbeitsschichten in den Kalenderjahren 2014 und 2015 zu. Dafür sei von einer geschuldeten vertraglichen Arbeitszeit von 156,60 Stunden im Monat auszugehen.

Für die Zahlung von 25% Überstundenzuschlag gebe es keine arbeitsvertragliche Grundlage und könne auch nicht aus betrieblicher Übung hergeleitet werden. Aus dem Vortrag des Mitarbeiters lasse sich nicht entnehmen, aufgrund welcher konkreten Handlungen der Arbeitgeberin in der Vergangenheit die Arbeitnehmer ein stillschweigendes Angebot entnehmen konnten, dass die Arbeitgeberin auch zukünftig einen Zuschlag von 25 % pro erbrachter Mehrarbeitsstunde leisten wolle. Der Mitarbeiter habe es versäumt, im Einzelnen darzulegen, für welche Mehrarbeitsstunde, die wann und durch wen geleistet wurde, die Arbeitgeberin mit kollektivrechtlichem Bezug für erbrachte Mehrarbeit einen Zuschlag geleistet habe.

Insbesondere sei nicht vorgetragen worden, aufgrund welcher Umstände davon auszugehen sei, die Arbeitgeberin habe die Mehrarbeitszuschläge aufgrund einer erkennbaren Regel ohne individual- und / oder kollektivrechtliche Grundlage an alle Mitarbeiter geleistet bzw. zu erkennen gegeben, diese Leistung erbringen zu wollen.

Das Arbeitsgericht habe zutreffend festgestellt, dass weder ein Anspruch des Mitarbeiters auf Zahlung eines Weihnachtsgeldes noch eines zusätzlichen Urlaubsgeldes für die Kalenderjahre 2014 bis 2017 bestehe. Der begehrte Zahlungsanspruchs folge weder aus einer betrieblichen Übung noch aus dem Arbeitsvertrag der Parteien noch aus der Nachwirkung einer tariflichen Regelung. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass seitens der Arbeitgeberin bzw. deren Rechtsvorgängerin beabsichtigt war, unabhängig von den Vorgaben in der jeweiligen Betriebsvereinbarung Weihnachtsgeld zu gewähren und weitere als die danach geschuldeten Zahlungen zu leisten.

Die BV Prämienzahlung 2003 sei auch nicht wegen Verstoßes gegen § 77 Absatz 3 BetrVG unwirksam. Dessen Sperrwirkung trete in den Bereichen einer nicht tarifgebundenen Arbeitgeberin nur insoweit ein, wie der betreffende Regelungsgegenstand nicht der zwingenden Bestimmung des Betriebsrats unterliegt. Andernfalls würde in den fraglichen Betrieben weder eine tarifliche Regelung gelten noch könnte es eine betrieblich mitbestimmte Regelung geben. Dies liefe dem Schutzzweck des § 87 Absatz 1 BetrVG zuwider. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können deshalb Angelegenheiten, die der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, auch dann durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden, wenn einschlägige tarifliche Regelungen bestehen, die beim Arbeitgeber mangels Tarifbindung nicht normativ gelten.

Vorliegend bestehe ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Absatz 1 Nr. 10 BetrVG. Mitbestimmungsfrei sei zwar die Entscheidung der Arbeitsgeberin, welchen abstrakten Zweck sie mit der freiwilligen Leistung verfolgen wolle. Sie könne allein entscheiden, ob sie etwa eine Weihnachtsgratifikation oder ein zusätzliches Urlaubsgeld oder einer Prämienzahlung leisten wolle. Mitzubestimmen habe der Betriebsrat dagegen bei der näheren Ausgestaltung der übertariflichen Entgelte in dem von der Arbeitgeberin vorgegebenen Rahmen, insbesondere bei der Aufstellung der Verteilungsgrundsätze.

Es bestand keine tarifvertragliche oder arbeitsvertragliche Verpflichtung zur Zahlung eines Weihnachtsgeldes oder eines zusätzlichen Urlaubsgeldes. Es handele sich grundsätzlich um eine freiwillige Leistung, deren „Ob“ zwar mitbestimmungsfrei, deren „Wie“ aber mitbestimmungspflichtig im Sinne des § 87 Absatz 1 Nr. 10 BetrVG sei. Entsprechend habe die Arbeitgeberin bzw. deren Rechtsvorgängerin frei über den Zweck, in diesem Fall die Einführung einer Prämie und nicht mehr die Leistung eines Weihnachtsgeldes sowie eines Urlaubsgeldes, entschieden. Die konkrete Ausgestaltung bedurfte jedoch der Mitbestimmung durch den Betriebsrat, so dass der Anwendungsbereich des § 87 BetrVG eröffnet ist.

Eine Revision zu dieser Entscheidung ist für die Forderungen zur geleisteten Mehrarbeit zugelassen. Ebenso für die Fragestellung, ob die Einführung des Arbeitszeitkontos einer zwingenden Mitbestimmung unterliegt.