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Anfechtung einer Betriebsratswahl wegen mangelnder Deutschkenntnisse ausländischer Arbeitnehmer

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 12.01.2024, Aktenzeichen 10 TaBV 51/23

Amtliche Leitsätze:

1. Die im Betrieb beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer sind der deutschen Sprache iSv. § 2 Abs. 5 WO der Wahlordnung zum BetrVG mächtig, wenn ihre Deutschkenntnisse ausreichen, um die zum Teil komplizierten Wahlvorschriften und den Inhalt eines Wahlausschreibens verstehen zu können. Das folgt aus dem Zweck der Vorschrift, ausländischen Arbeitnehmern in gleicher Weise wie deutschen Arbeitnehmern die Wahrnehmung ihres aktiven und passiven Wahlrechts zu ermöglichen.

2. Angesichts des Gesetzeszwecks dürfen die für die Beurteilung einer hinreichenden Sprachkompetenz maßgeblichen betrieblichen Verhältnisse nicht auf das Arbeitsumfeld und die im Zusammenhang mit der Durchführung des Arbeitsverhältnisses anfallenden Aufgaben und sprachlichen Anforderungen reduziert werden. Im Zweifelsfall muss der Wahlvorstand von unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen ausgehen. Anlass dazu besteht jedenfalls dann, wenn ca. 15 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eines über 10.000 Wahlberechtigte umfassenden Betriebs unterschiedlichsten Sprachräumen entstammen.

Sachverhalt:

Die Parteien sind in einem Streit über die Gültigkeit einer Betriebsratswahl im Jahr 2022 involviert. Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 18) betreibt ein Stahlwerk in D. H./B. mit etwa 13.300 wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen ca. 15 Prozent keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Der Betriebsrat (Beteiligter zu 17) besteht aus 39 Mitgliedern, die aus der umstrittenen Wahl hervorgegangen sind. Der Wahlvorstand leitete die Wahl eines neuen Betriebsrats mit einem Wahlausschreiben vom 07.02.2022 ein, das auch Informationen für anderssprachige Mitarbeiter enthielt. Die Wahl fand zwischen dem 22.03.2022 und dem 01.04.2022 statt, und das Ergebnis wurde am 02.04.2022 bekannt gegeben. Es gab verschiedene Listen mit unterschiedlichen Mandaten, und die Wahl wurde von mehreren Parteien angefochten. Die Verfahren wurden vom Arbeitsgericht zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Neben anderen nicht relevanten Beschwerdepunkten haben die Antragsteller die Anfechtung der Betriebsratswahl damit begründet, dass der Wahlvorstand gemäß § 2 Abs. 5 der Wahlordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes (WO) nicht sicherstellte, dass ausländische Arbeitnehmer, die kein Deutsch sprechen, angemessen über den Wahlprozess informiert wurden. Die Beteiligten 3, 6 und 12 behaupteten, dass viele ausländische Arbeitnehmer nicht genug Deutsch verstehen, um die Wahlunterlagen zu begreifen. Einige dieser Arbeitnehmer können weder Deutsch lesen noch schreiben.

Das Arbeitsgericht hat die Wahl für unwirksam erklärt. Hiergegen wendete sich der Betriebsrat. Das LAG hat die Beschwerden für unbegründet erachtet und das Arbeitsgericht bestätigt.

Die Anfechtungsgründe der Wahl sind gerechtfertigt, da der Wahlvorstand wesentliche Vorschriften des Wahlverfahrens verletzt hat. Es besteht die Möglichkeit, dass das Wahlergebnis bei einer ordnungsgemäßen Wahl anders ausgefallen wäre (gemäß § 19 Abs. 1 BetrVG). Das Arbeitsgericht hat festgestellt, dass der Wahlvorstand nicht sicherstellte, dass ausländische Arbeitnehmer, die kein Deutsch sprechen, angemessen über das Wahlverfahren, die Wähler- und Vorschlagslisten, den Wahlvorgang und die Stimmabgabe informiert wurden, was einen Verstoß gegen § 2 Abs. 5 WO darstellt. Das Beschwerdegericht unterstützt diese Ansicht. Weder der Betriebsrat noch die Arbeitgeberin haben Argumente vorgebracht, die zu einer Änderung des erstinstanzlichen Urteils führen könnten. Das Arbeitsgericht wird nicht vorgeworfen, die Fakten falsch interpretiert zu haben oder seine Pflicht zur sorgfältigen Ermittlung vernachlässigt zu haben.

Die Soll-Vorschrift des § 2 Abs. 5 WO ist eine wesentliche Regelung des Wahlverfahrens gemäß § 19 Abs. 1 BetrVG, deren Nichtbeachtung die Anfechtung der Betriebsratswahl rechtfertigt. Diese Regelung zielt darauf ab, das aktive und passive Wahlrecht sicherzustellen und die Integration ausländischer Arbeitnehmer im Betrieb zu fördern, die gemäß § 7 und § 8 BetrVG die gleichen Wahlrechte wie deutsche Arbeitnehmer haben. Die Einhaltung des § 2 Abs. 5 WO ist entscheidend für die Verwirklichung des demokratischen Grundsatzes der Gleichheit der Wahl. Obwohl der Wahlvorstand einen gewissen Ermessensspielraum bei der Art der Unterrichtung hat, ist dieser aufgrund der Bedeutung der Vorschrift eng begrenzt. Es ist entscheidend, dass die Unterrichtung den Zweck des § 2 Abs. 5 WO erfüllt, damit ausländische Arbeitnehmer ihr Wahlrecht ebenso ausüben können wie deutsche Arbeitnehmer. 

Der Wahlvorstand hat gegen diese Vorgabe verstoßen, da er nicht sicherstellte, dass ausländische Arbeitnehmer, die kein Deutsch sprechen, angemessen über das Wahlverfahren informiert wurden, obwohl dies aufgrund der betrieblichen Gegebenheiten erforderlich war.

Der Wahlvorstand war verpflichtet, aufgrund der betrieblichen Gegebenheiten sicherzustellen, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die kein Deutsch sprechen, vor Beginn der Betriebsratswahl angemessen über das Wahlverfahren, die Erstellung der Wähler- und Vorschlagslisten, den Ablauf der Wahl und die Stimmabgabe informiert werden. Trotz der Meinung des Betriebsrats und der Arbeitgeberin musste er berücksichtigen, dass im Betrieb ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tätig sind, die nicht Deutsch sprechen können gemäß § 2 Abs. 5 WO.

Wie das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 13. Oktober 2004 betont hat, reicht es nicht aus, sich allein darauf zu verlassen, ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im täglichen Arbeitsumfeld ausreichend kommunizieren können. Denn die Fähigkeit zur Verständigung im Arbeitsalltag lässt nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf ausreichende Deutschkenntnisse im Hinblick auf den Zweck des § 2 Abs. 5 WO zu. Entscheidend ist vielmehr, ob die Deutschkenntnisse ausreichen, um die komplexen Wahlvorschriften und den Inhalt eines Wahlausschreibens zu verstehen. Das Bundesarbeitsgericht hat betont, dass im Zweifelsfall von unzureichenden Deutschkenntnissen ausgegangen werden sollte. Das Beschwerdegericht stimmt der Auffassung zu, dass angesichts des hohen Schutzgutes der gleichberechtigten demokratischen Teilhabe aller ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den Betriebsratswahlen hohe Anforderungen an ausreichende Sprachkenntnisse gestellt werden sollten.

Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner oben genannten Entscheidung festgestellt, dass die genannten Bedingungen gelten, wenn im Betrieb eine größere Anzahl ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im gewerblichen Bereich mit einfachen Hilfsarbeiten beschäftigt sind. Dies bedeutet, dass die Unterrichtungspflicht nicht nur von bestimmten Qualifikationsniveaus oder Arbeitsbedingungen abhängt, wie vom Betriebsrat und der Arbeitgeberin argumentiert. Vielmehr wurde dargelegt, warum unter den gegebenen Umständen aus Sicht des Wahlvorstands davon ausgegangen wurde, dass viele wahlberechtigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb nicht ausreichend Deutsch sprechen, um sich über Wahlverfahren und -vorgänge zu informieren. 

In diesem speziellen Fall stand der Wahlvorstand vor einer ähnlichen, wenn auch nicht identischen Situation.

Es kann dahingehend angenommen werden, dass die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb über Berufsausbildungen und -qualifikationen verfügt, und dass betriebliche Kommunikation sowie Arbeitsanweisungen hauptsächlich in deutscher Sprache abgefasst sind. Trotz dieser Umstände ist es wichtig zu betonen, dass die Beurteilung der sprachlichen Kompetenz nicht allein auf die beruflichen Tätigkeiten und Anforderungen im Betrieb beschränkt werden sollte. Es wird zutreffend argumentiert, dass ein Arbeitnehmer mit ausländischem Hintergrund trotz vorhandener Deutschkenntnisse in Berufskontexten nicht unbedingt die Fähigkeit besitzt, in deutscher Sprache verfasste Wahlunterlagen zu verstehen. Daher ist es entscheidend, nicht nur die Sprachkompetenz im Arbeitsumfeld, sondern auch speziell im Kontext der Wahlvorbereitungen zu berücksichtigen.

Es ist von Bedeutung anzuerkennen, dass etwa 15 Prozent der wahlberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, was circa 2000 Personen entspricht. Auch wenn die genaue Anzahl ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht genau bekannt ist, so deutet bereits eine kleinere Anzahl von Nicht-Deutschen darauf hin, dass es sich um eine relevante Anzahl handeln könnte, wie es vom Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 13. Oktober 2004 betont wurde. Daher ist es essentiell, bei der Bewertung der Sprachkenntnisse des Wahlvorstandes und der Anfechtungsgegner die Vielfalt der Nationalitäten unter den Beschäftigten angemessen zu berücksichtigen.

Die besagte Überlegung des Bundesarbeitsgerichts impliziert, dass mit zunehmender Anzahl ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im gewerblichen Bereich, die einfache Hilfstätigkeiten ausüben, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass einige von ihnen nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen. Diese Beziehung zur Wahrscheinlichkeit lässt sich auch im vorliegenden Fall feststellen: Je größer die Anzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass unter ihnen Personen sind, deren Deutschkenntnisse trotz ihrer fachlichen Qualifikation nicht ausreichen, um die komplexen Wahlvorschriften oder ein Wahlausschreiben zu verstehen.

Es ist nicht entscheidend zu klären, ob unter den knapp 2000 ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beispielsweise 1000 oder nur 100 Personen diese Sprachbarriere haben könnten. Selbst wenn es sich nur um eine geringe Anzahl von Personen handelt, ist es folglich unerheblich, da der Wahlvorstand unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass hohe Sprachanforderungen aufgrund der Wichtigkeit der Vorschriften anzulegen sind, berechtigterweise Zweifel an den Sprachkenntnissen dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hegen konnte. Diese Zweifel ließen sich nicht durch die Argumente der Beschwerdeführer bezüglich der fachlichen Qualifikationen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Erledigung ihrer Tätigkeiten entkräften.

Die Einhaltung der Vorgaben des § 2 Abs. 5 WO, die darauf abzielen, allen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine gleiche demokratische Teilhabe an den Betriebsratswahlen zu ermöglichen, kann mit vergleichsweise geringem Aufwand erreicht werden. Eine mögliche Maßnahme hierfür wäre die Übersetzung des Wahlausschreibens und anderer Wahlinformationen in die vierzehn Sprachen, für die der Wahlvorstand bereits den Hinweis “Information Fremdsprachen” übersetzt hat. Wenn hiervon abgewichen wird, könnte dies das Grundprinzip des Bundesarbeitsgerichts untergraben, wonach im Zweifel von unzureichenden Sprachkenntnissen ausgegangen werden sollte, was eine unzulässige Einschränkung bei der Prüfungsperspektive darstellen würde.

Der Wahlvorstand hat somit die Anforderungen gemäß § 2 Abs. 5 WO, die sich aus den betrieblichen Gegebenheiten ergeben, nicht angemessen berücksichtigt.

Aus den vorgenannten Gründen war die Wahl unwirksam.