Streit über Corona-Prämie wird vom Sozialgericht entschieden
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 01.03.2022, Aktenzeichen AZB 25/21
Ein Streit über die Auszahlung einer Corona-Prämie ist vor einem Sozialgericht zu entscheiden, denn Rechtsfragen, die im Grundsatz im Sozialgesetzbuch XI geregelt sind, gehören in die Zuständigkeit der Sozialgerichte.
Als Zeichen der Wertschätzung der Beschäftigten zugelassener Pflegeeinrichtungen für die besonderen Anforderungen während der Corona-Virus-SARs-Cov2-Pandemie (Corona-Prämie) wurde vom Gesetzgeber die Zahlung einer einmaligen Sonderleistung, bestehend aus der Corona-Prämie Bund und der Corona-Prämie Land beschlossen und in § 150a Absatz 1 Satz 1 SGB XI (Sozialgesetzbuch) geregelt. Die der Aufstockung durch das Bundesland zugrundeliegenden Beträge werden aus Mitteln der Pflegekassen finanziert.
Ein Mitarbeiter war als Pflegefachkraft beschäftigt und erhielt von seiner Arbeitgeberin im Jahr 2020 die Corona-Prämie Bund und die Corona-Prämie Land ausgezahlt. Der Pflegemitarbeiter war mit dem ausgezahlten Betrag nicht einverstanden. Im August 2020 forderte er die Arbeitgeberin auf, an ihn insgesamt 1 500 € auszuzahlen, und ihm ausstehenden Differenzbetrag als Nachzahlung zu leisten.
Die Arbeitgeberin lehnte den Antrag ab. Die Einrichtung der Arbeitgeberin hält Pflegeheim und Eingliederungshilfeeinrichtung (SGB IX; SGB XI § 43a) vor. Die Bewohner erhalten daher Leistungen entsprechend SGB IX und entsprechend SGB XI. Somit wird das Gesamtpersonal (bzw. jeder einzelne Mitarbeiter) anteilig in Personal für die Pflege und Personal für die Eingliederungshilfe aufgeteilt. Die Mitarbeiter arbeiten 56 % in der Pflege und 44 % in der Eingliederungshilfe. Diese Aufteilung ist Bestandteil der Leistungsvereinbarung der Einrichtung und ist Grundlage für die Prüfungen durch die Heimaufsicht.
Da die Eingliederungshilfe keine sogenannte Corona-Prämie erhält, konnte zur Bemessung der Prämie nur der Anteil für die Pflege, sprich 56 %, herangezogen werden. Daher ergibt sich die Minderung der Beträge.
Die Arbeitgeberin bedauerte diese Regelung ausdrücklich. Sie sei aber verpflichtet die gesetzlichen Rahmenbedingungen einzuhalten.
Der Mitarbeiter beanspruchte, ihm stünden der Bundes- und Landesanteil der Corona-Prämie in voller Höhe von zusammengerechnet 1 500,00 Euro zu, weil er als Pflegefachkraft eingestellt worden sei und wöchentlich mehr als 35 Stunden gearbeitet habe.
Vor dem Arbeitsgericht beantragte der Pflegemitarbeiter, die Arbeitgeberin zu verurteilen, den Differenzbetrag zwischen der geleisteten Zahlung und dem geforderten Betrag von 1 500 € zu zahlen.
Die Arbeitgeberin vertrat weiterhin ihre Ansicht, die Corona-Prämie steht dem Pflegemitarbeiter nur anteilig zu, weil er in einer sogenannten „Komplexeinrichtung Eingliederungshilfe und Pflege“ beschäftigt sei und nur teilweise Arbeitsleistungen im Sinne des SGB XI erbracht habe, im Übrigen aber solche im Sinne des SGB IX, die nicht prämienfähig seien.
Der Rechtsstreit sei an das zuständige Sozialgericht zu verweisen. Es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der sozialen Pflegeversicherung. Auch für den Streit über die Landesprämie seien die Sozialgerichte zuständig, weil für die Berechnungs- und Verfahrensmodalitäten allein die sozialrechtlichen Bestimmungen maßgeblich seien.
Das Arbeitsgericht hat den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen für zulässig erklärt. Das Landesarbeitsgericht hat die sofortige Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt die Arbeitgeberin weiterhin die Verweisung des Rechtsstreits an das zuständige Sozialgericht.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, für den Rechtsstreit ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet.
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist entgegen der Annahme der Vorinstanzen nicht eröffnet. Zwischen den Parteien besteht keine bürgerlich-rechtliche, sondern eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Aus diesem Grund kommt eine Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen weder nach § 2 Absatz 1 Nr. 3 Buchst. a ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) noch – wie zum Teil vertreten wird – nach § 2 Absatz 1 Nr. 4 Buchstabe a ArbGG in Betracht.
Nach § 2 Absatz 1 ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen allein für „bürgerliche Rechtsstreitigkeiten“ zuständig.
Das Rechtsverhältnis, aus dem der Pflegemitarbeiter die geltend gemachten Ansprüche ableitet, ist ausschließlich öffentlich-rechtlicher Natur. Der Pflegemitarbeiter nimmt die Arbeitgeberin mit der von ihm erhobenen allgemeinen Leistungsklage, die auf die Auszahlung eines erhöhten Bundes- und Landesanteils der Corona-Prämie gerichtet ist, auf die Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten in Anspruch, die der Arbeitgeberin auferlegt sind. Der zur Klagebegründung vorgetragene Sachverhalt und die aus ihm hergeleitete Rechtsfolge wird ausschließlich durch Rechtssätze des öffentlichen Rechts geprägt, welche die Auslegung und Anwendung der vorgenannten öffentlich-rechtlichen Bestimmungen betreffen. Es besteht kein Rechtssatz des bürgerlichen Rechts, der die Frage beantworten könnte, wie die Corona-Prämie und die Landesprämie bei Arbeitnehmern zu berechnen ist, die in einer „Komplexeinrichtung Eingliederungshilfe und Pflege“ beschäftigt sind.
Der Gesetzgeber hat mit der „obligatorischen“ Corona-Prämie nach § 150a Absatz 1 Satz 1 SGB XI einen öffentlich-rechtlicher Zahlungsanspruch geregelt. Bei der Prämie handelt es sich um eine Sonderleistung aus Mitteln der sozialen Pflegeversicherung.
Dem öffentlich-rechtlichen Charakter des Anspruchs steht nicht entgegen, dass die Arbeitgeberin als zur Auszahlung der Corona-Prämie Verpflichtete bestimmt ist und der Anspruch der Arbeitnehmer grundsätzlich an die tatsächliche Ausübung einer pflegerischen Tätigkeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses gebunden ist.
Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Auszahlung der „obligatorischen“ Corona-Prämie durch die Arbeitgeberin knüpft zwar hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen an das Arbeitsverhältnis an, er hat seine Grundlage jedoch nicht in der Vertragsbeziehung von Arbeitgeberin und Arbeitnehmer, sondern in den durch § 150a Absatz 1 SGB XI begründeten Leistungspflichten der sozialen Pflegeversicherung und den der Arbeitgeberin in diesem Zusammenhang auferlegten öffentlich-rechtlichen Pflichten.
Die Arbeitgeberin fungiert allein als von der sozialen Pflegeversicherung in Dienst genommener Zahlstelle, denn sie hat die Corona-Prämie nicht aus eigenen Mitteln zu bestreiten, sondern lediglich nach der Vorauszahlung durch die soziale Pflegeversicherung unverzüglich an die Arbeitnehmer weiterzuleiten.
Bei dem Anspruch auf Auszahlung der „Landesprämie“ handelt es sich ebenfalls um einen öffentlich-rechtlichen Anspruch. Die Arbeitgeberin erfüllt dementsprechend im Zusammenhang mit der Auszahlung der „Landesprämie“ öffentlich-rechtliche Pflichten. Ihr kommt, wie bei der Auszahlung der Corona-Prämie, die Funktion einer in Dienst genommener Zahlstelle zu.
Für den Rechtstreit ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und nicht der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Die Streitigkeit ist im Sinne des § 40 Absatz 1 Satz 1 VwGO (Verwaltungsgerichtsordnung) ausdrücklich durch Bundesgesetz einem anderen Gericht zugewiesen.
Soweit die „Corona-Prämie“ im Streit steht, folgt dies unmittelbar aus § 51 Absatz 1 Nr. 2, Absatz 2 Satz 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) handelt.
Die Rechtswegzuweisung des § 51 Absatz 1 Nr. 2 SGG bezieht sich auf den gesamten Bereich des Leistungs- und Leistungserbringerrechts des SGB XI, soweit es um Streitfragen nach dem SGB XI, mithin um die Auslegung von Vorschriften des SGB XI geht. Es kommt entscheidend darauf an, ob die Vorschriften, die zur Klärung der streitigen Rechtsfragen heranzuziehen und auszulegen sind, zumindest im Grundsatz im SGB XI geregelt sind.
Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist auch eröffnet, soweit der Pflegemitarbeiter hilfsweise Schadensersatzansprüche wegen eines Organisationsverschuldens der Arbeitgeberin geltend macht. Solange der Hauptantrag rechtshängig ist, muss die Rechtswegfrage einheitlich beantwortet werden, da sich das hilfsweise geltend gemachte Begehren nicht abtrennen lässt.