BLOG RECHTSPRECHUNG

Nachladung von Ersatzmitgliedern bei plötzlichem Ausfall eines Betriebsratsmitgliedes

Bundesarbeitsgericht (1. Senat), Urteil vom 20.05.2025, Aktenzeichen 1 AZR 35/24

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 20. Mai 2025 (1 AZR 35/24) betrifft eine Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer (Kläger) und seinem ehemaligen Arbeitgeber (Beklagte) über Entgeltkürzungen aufgrund einer ablösenden Betriebsvereinbarung. Es geht insbesondere um die Frage, ob eine Betriebsvereinbarung wirksam ist, wenn ein Betriebsratsmitglied ausfällt und kein Ersatzmitglied geladen wird, sowie um die Wirksamkeit einer Entgeltregelung trotz fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers.

Das Gericht hebt das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg auf und bestätigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts Freiburg. Das heißt: Die Klage wird abgewiesen.

Leitsatz: 

Der Betriebsratsvorsitzende darf regelmäßig annehmen, dass die rechtzeitige Nachladung eines Ersatzmitglieds jedenfalls dann nicht mehr möglich ist, wenn ihm die Verhinderung eines Betriebsratsmitglieds erst im Lauf des Tags der Betriebsratssitzung zur Kenntnis gelangt.

Sachverhalt: 

Der Kläger war bis Ende 2022 bei einem nicht tarifgebundenen Metallwarenhersteller beschäftigt.

Er berief sich auf eine Betriebsvereinbarung von 2007 (BV 2007), die ein Vergütungssystem regelte, das sich an den Entgeltrahmen-Tarifvertrag (ERA-TV) anlehnte.

Ein sogenannter „Sockelbetrag“ sollte die Differenz zwischen altem und neuem Entgelt ausgleichen und künftig an Tariferhöhungen teilnehmen.

Im Dezember 2020 schloss die Arbeitgeberin mit dem Betriebsratsvorsitzenden eine neue Betriebsvereinbarung (BV 2020), wonach:

            •          der Sockelbetrag um 25 % reduziert wurde
            •          und die verbleibenden 75 % nicht mehr an Entgelterhöhungen teilnehmen 

sollten.

Strittig war, ob der zugrunde liegende Betriebsratsbeschluss vom 1. Dezember 2020 wirksam zustande gekommen war. Der Betriebsrat bestätigte diesen Beschluss erst nachträglich am 25. Juli 2023 – bei einer Sitzung, zu der ein kurzfristig erkranktes Mitglied nicht ersetzt wurde.

Der Kläger erhob eine Feststellungsklage, weil nach seiner Auffassung die BV 2020 wegen eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG (Tarifvorrang) unwirksam sei; außerdem fehle ein wirksamer Beschluss.

Das angerufene Arbeitsgericht Freiburg hat die Klage abgewiesen, weil es die BV 2020 für wirksam erachtete. Das Berufungsgericht – Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert, weil es die BV 2020 für unwirksam hielt.

Entscheidungsgründe des BAG: 

Das BAG erklärt die Feststellungsklage für zulässig (§ 256 ZPO), da der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung seiner Entgeltansprüche hatte, hielt die Klage jedoch auch für unbegründet; die BV 2020 ist wirksam.

a) Keine Verletzung von § 77 Abs. 3 BetrVG

Der Arbeitgeber war nicht tarifgebunden, weshalb die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG entfällt.
Die BV 2020 betrifft mitbestimmungspflichtige Entlohnungsgrundsätze im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, nicht absolute Entgelthöhen.
Sie beeinflusst die Struktur der Vergütung (Sockelbetrag), nicht deren konkrete Höhe, und fällt daher unter die betriebliche Mitbestimmung.

b) Wirksamer Betriebsratsbeschluss (Genehmigung nachträglich möglich)

Zwar bestand Unsicherheit, ob der ursprüngliche Beschluss vom 1. Dezember 2020 ordnungsgemäß war.
Der Beschluss vom 25. Juli 2023 hat jedoch die BV 2020 nachträglich genehmigt, was gemäß § 184 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung zurückwirkt.
Damit gilt die Vereinbarung rückwirkend als wirksam.

Zur Ladung von Ersatzmitgliedern:

Die rechtzeitige Nachladung eines Ersatzmitglieds ist erforderlich, wenn ein Mitglied verhindert ist (§ 29 Abs. 2 Satz 6 BetrVG).
Eine Nachladung ist aber nicht mehr erforderlich, wenn die Verhinderung erst am Tag der Sitzung bekannt wird.
Der Vorsitzende hat hier einen Beurteilungsspielraum, und in diesem Fall wurde dieser nicht überschritten.

Damit war der Beschluss vom 25. Juli 2023 ordnungsgemäß.

c) Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit

Eine neue Betriebsvereinbarung kann eine frühere mit Wirkung für die Zukunft ersetzen, auch wenn sie ungünstiger ist.
Das Günstigkeitsprinzip gilt hier nicht; maßgeblich ist die Zeitkollisionsregel („neu bricht alt“).
Die BV 2020 trat ab 1. Januar 2022 in Kraft und hat keine unzulässige Rückwirkung.

d) Kein einzelvertraglicher Anspruch

Die Bezugnahme auf die BV 2007 im Arbeitsvertrag war deklaratorisch, nicht konstitutiv.
Daher begründet sie keinen individuellen Anspruch auf deren Fortgeltung.

Rechtliche Kernaussagen: 

1.  Ladung von Ersatzmitgliedern:
Der Betriebsratsvorsitzende darf regelmäßig annehmen, dass eine rechtzeitige Nachladung nicht mehr möglich ist, wenn ihm die Verhinderung erst am Tag der Sitzung bekannt wird.

2.  Nachträgliche Genehmigung von Betriebsratsbeschlüssen:
Eine nachträgliche Genehmigung eines zunächst unwirksamen Beschlusses ist zulässig (§ 184 BGB) und wirkt rückwirkend.

3.  Mitbestimmung und Tarifvorrang:
Bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber kann der Betriebsrat volle Mitbestimmung in der betrieblichen Entgeltstruktur ausüben (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG).

4.  Ablösung von Betriebsvereinbarungen:
Eine neuere Vereinbarung kann eine ältere für die Zukunft ersetzen, auch wenn sie ungünstiger ist. Rückwirkung ist nur begrenzt durch Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit.

Bedeutung für die Praxis:

Das Urteil präzisiert maßgeblich die Pflichten des Betriebsratsvorsitzenden bei kurzfristigen Verhinderungen und die Rechtswirkungen nachträglicher Genehmigungen.

Es stärkt die Rechtssicherheit für Betriebsratsentscheidungen und klärt zugleich, dass bei fehlender Tarifbindung der Arbeitgeber kollektivrechtlich freie Entlohnungsgrundsätze einführen kann, solange der Betriebsrat beteiligt wird.

Arbeitgeber und Betriebsräte erhalten so Orientierung, wann Betriebsvereinbarungen trotz formeller Mängel wirksam bestehen bleiben.