Geltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 27. April 2017, Aktenzeichen C-680/15 und C-681/15
Im Rahmen eines Betriebsüberganges gehen die Rechte und Pflichten des Veräußerers, die sich aus dem bestehenden Arbeitsvertrag bzw. Arbeitsverhältnis ergeben, auf den Erwerber über. Die im Kollektivertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen sind vom Erwerber solange in gleichem Maße aufrecht zu erhalten wie beim Veräußerer, bis der Kollektivvertrag abgelaufen oder gekündigt wurde, oder ein anderer Kollektivvertrag angewendet wird.
Zwei Arbeitnehmer waren in einem Krankenhaus als Hausarbeiter/Gärtner bzw. Stationshelferin beschäftigt. Die kommunale Gebietskörperschaft veräußerte das Krankenhaus an eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Der Betriebsteil, in dem die beiden Arbeitnehmer beschäftigt waren, ging zwei Jahre später an eine Facility-Management GmbH über, die später Teil eines Krankenhaus-Konzerns wurde.
Die mit der Facility-Management GmbH abgeschlossenen Arbeitsverträge erhielten eine dynamische Verweisklausel. Das Arbeitsverhältnis solle sich, wie vor dem Übergang, nach dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe richten und auch zukünftig nach Tarifverträgen die diesen ergänzen, ändern oder ersetzen.
Die beiden Arbeitnehmer beantragten beim Arbeitsgericht die Feststellung, anhand der dynamischen Verweisklauseln in ihren Arbeitsverträgen auf den Bundesmanteltarifvertrag und den diesen ersetzenden Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvöD) sowie ergänzende Tarifverträge,
seien diese Verträge auf ihr Arbeitsverhältnis anzuwenden.
Der Krankenhaus-Konzern als Arbeitgeberin vertrat die Auffassung, nach nationalem Recht sei zwar die Rechtsfolge einer solchen dynamischen Anwendung der in Bezug genommenen kollektiven Regelungen des öffentlichen Dienstes anwendbar. Die europäische Richtlinie 2001/23 und Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union stünden dem entgegen. Damit würde nach dem Übergang der Arbeitnehmer auf eine andere Arbeitgeberin lediglich die statische Anwendung dieser Regelungen erfolgen. Dem Erwerber könnten nur die mit dem Veräußerer vereinbarten Arbeitsbedingungen aus den im Arbeitsvertrag benannten Kollektivverträgen entgegengehalten werden.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht (LAG) gaben der Klage der Arbeitnehmer statt. Der Krankenhaus-Konzern legte Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ein. Das BAG setzte das Verfahren aus, um vom Europäischen Gerichtshof Fragen klären zu lassen.
Es sei zu klären ob Artikel 3 der europäischen Richtlinie 2001/23 in Verbindung mit Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen sei, dass sich im Fall eines Betriebsübergangs die Fortgeltung der sich für den Veräußerer aus einem Arbeitsvertrag ergebenden Rechte und Pflichten auf die zwischen dem Veräußerer und dem Arbeitnehmer privatautonom vereinbarte Klausel erstreckt, wonach sich ihr Arbeitsverhältnis nicht nur nach dem zum Zeitpunkt des Übergangs geltenden Kollektivvertrag, sondern auch nach den diesen nach dem Übergang ergänzenden, ändernden und ersetzenden Kollektivverträgen richtet, sofern das nationale Recht sowohl einvernehmliche als auch einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vorsehe.
Der Europäische Gerichtshof führte aus, die europäische Richtlinie 77/187 bezwecke nur, die am Tage des Übergangs bestehenden Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers zu wahren. Erwartungen, die sich aus zukünftigen Entwicklungen der Kollektiverträge ergeben könnten, sollen nicht geschützt werden.
Der Wortlaut der europäischen Richtlinie 2001/23 insbesondere ihr Artikel 3 solle eine dynamische Vertragsklausel nicht in jedem Fall verhindern. Hätten Veräußerer und Arbeitnehmer eine dynamische Vertragsklausel frei vereinbart, und diese ist zum Übergangszeitpunkt in Kraft, gehe diese sich aus einem Arbeitsvertrag ergebende Pflicht auf den Erwerber über. Jedoch müsse der Erwerber in der Lage sein, nach dem Übergang die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen, da ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen von Arbeitnehmer und Erwerber zu gewährleisten ist.
Artikel 3 der europäischen Richtlinie 2001/23 sage im Zusammenhang mit der unternehmerischen Freiheit aus, dem Erwerber muss es möglich sein, seine Interessen wirksam geltend zu machen und die auf die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine zukünftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln.
Aus dem Wortlaut der Vorlagefragen ergebe sich, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung sehe sowohl einseitige als auch einvernehmliche Lösungen für den Erwerber vor, zum Zeitpunkt des Überganges bestehende Arbeitsbedingungen nach dem Übergang anzupassen. Es sei davon auszugehen, dass die nationale Regelung den Anforderungen der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils aufgeführten Rechtsprechung genüge. Diese Rechtsprechung berücksichtige bereits Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Die Arbeitgeberin stelle offenbar die Wirksamkeit oder das Vorliegen der Anpassungsmöglichkeiten infrage. Es sei jedoch nicht Sache des Gerichtshofes über diesen Gesichtspunkt zu entscheiden. Die Auslegung nationalen Rechts, sowie die Würdigung des Sachverhalts unterliege allein der Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts.
Sieht das nationale Recht einvernehmliche sowie einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vor, erstrecken sich die sich aus dem Arbeitsvertrag mit dem Veräußerer ergebenden Rechte und Pflichten im Falle eines Betriebsüberganges auch auf die privatautonom vereinbarte Klausel, nach der sich das Arbeitsverhältnis zusätzlich zum während des Übergangs geltenden Kollektivvertrag auch nach ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Kollektivverträgen richtet.
Diese Auslegung ergibt sich aus Artikel 3 der Richtlinie 2001/23/EG des Europäischen Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliederstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betriebe oder Betriebsteilen in Verbindung mit Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.