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Tarifvertrag geht vor Betriebsvereinbarung

Betriebsvereinbarung kann Tarifvertrag nicht umgehen

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17.08.2021, Aktenzeichen 1 AZR 175/20

Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.

Im Oktober 2003 wurde die Arbeitszeit im Betrieb der Arbeitgeberin auf 40 Wochenstunden ohne Lohnausgleich erhöht. Die tägliche Arbeitszeit erhöhte sich um 30 Minuten auf 8 Stunden. Zeitgleich führte die Arbeitgeberin Arbeitszeitkonten ein. Begründet wurden die mittels Betriebsvereinbarung umgesetzten Maßnahmen mit dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitgeberin und der damit verbundenen Sicherung des Standortes.

Weiterhin wurde im Rahmen der Zeitzuschläge vereinbart, für Überstunden, die in den Guthabenbereich fließen, keine Grundstunden bzw. Mehrarbeitszuschläge auszubezahlen. Zuschläge für Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit wurden weiterhin vergütet.

In den Jahren 2004 bis 2016 – außer 2007 und 2009 – erhielt ein Mitarbeiter, der im Schichtbetrieb arbeitete, jährliche Erhöhungen des sich aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzenden Entgelts.

Für den Zeitraum 2014 bis 2017 klagte der Mitarbeiter beim Arbeitsgericht auf Zahlung einer Vergütung für Überstunden, einschließlich eines Stundenzuschlages von 25%. Hilfsweise verlangte er die Gutschrift dieser Überstunden auf seinem Arbeitszeitkonto. Im Umfang seiner Klage war auch die Forderung nach der Feststellung enthalten, dass der Umfang seiner monatlichen Arbeitszeit 156,60 Stunden beträgt und er Anspruch auf die Gewährung höherer Zuschläge für Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsschichten hat.

Der Mitarbeiter argumentierte, Nr. 3 der Rahmenbetriebsvereinbarung (RBV) sei wegen Verstoßes gegen § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) unwirksam. Maßgeblich sei seine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 156,60 Stunden im Monat. Die darüber hinaus erbrachten Überstunden seien im Hinblick auf eine betriebliche Übung mit einem Zuschlag in Höhe von 25 % zu vergüten. Zudem habe er Anspruch auf höhere Schichtzuschläge.

Die Arbeitgeberin hingegen vertrat die Ansicht, entsprechend der Betriebsvereinbarung betrage die regelmäßige Arbeitszeit 40 Wochenstunden. Der Umfang der Arbeitszeit sei jedenfalls bereits aufgrund der mehr als 14 Jahre andauernden aktiven Teilnahme an dem in der Betriebsvereinbarung geregelten Arbeitszeitmodell konkludent geändert worden. Etwaige Ansprüche seien zudem verwirkt.

Das Arbeitsgericht stellte fest, die regelmäßige Arbeitszeit des Mitarbeiters betrage 156,60 Stunden im Monat. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Die Berufung der Arbeitgeberin hat das Landesarbeitsgericht (LAG) abgewiesen und auf die Berufung des Mitarbeiters dem Antrag auf Zahlung von Schichtzuschlägen seit 2014 stattgegeben. Im Übrigen wurde die Berufung des Mitarbeiters zurückgewiesen.

Mit seiner Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte der Mitarbeiter seine Anträge auf Überstundenvergütung weiter, während die Arbeitgeberin die vollständige Klageabweisung verfolgte.

Das Bundesarbeitsgericht entschied, mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts durften die Klageanträge zur Überstundenvergütung für die Jahre 2014 bis 2017 nicht abgewiesen werden.

Erbringt der Arbeitnehmer Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang, ist die Arbeitgeberin nach § 612 Absatz 1 BGB zu deren Vergütung verpflichtet, wenn sie die Leistung von Überstunden veranlasst hat oder sie ihr zumindest zuzurechnen ist. Letzteres erfordert, dass die Überstunden von der Arbeitgeberin angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sind.

Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit des Mitarbeiters sei nicht aufgrund einer Betriebsvereinbarung geändert worden. Zwar betrage nach Nr. 3 Rahmenbetriebsvereinbarung die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für alle Mitarbeiter 40 Stunden ohne Lohnausgleich. Diese Bestimmung sei aber wegen Verstoßes gegen § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG unwirksam.

Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nach § 77 Absatz 3 Satz 1 BetrVG nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Der Verstoß gegen diese Regelungssperre führt zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung.

Der Betrieb der Arbeitgeberin unterliege dem räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrags für die Arbeiter und Angestellten in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen (GMTV). Nach dessen § 2 Nr. 1 Absatz 1 betrage die wöchentliche Arbeitszeit ohne Pausen 35 Stunden. Ihre Verlängerung auf bis zu 40 Stunden sei nur mit Zustimmung des Arbeitnehmers möglich. Eine Öffnungsklausel für Abweichungen durch Betriebsvereinbarung enthält die Tarifnorm nicht.

Die Mitbestimmung des Betriebsrats erstreckt sich auf Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage. Seine Mitbestimmungsrechte erstrecken sich jedoch nicht auf die Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit.

Die Parteien haben den Arbeitsvertrag des Mitarbeiters im Hinblick auf den Umfang der geschuldeten Arbeitszeit nicht dadurch konkludent abgeändert, dass sie diesen entsprechend den Vorgaben der Rahmenbetriebsvereinbarung faktisch vollzogen haben. Es fehle bereits an einem konkludenten Angebot einer der Rechtsvorgängerinnen der Arbeitgeberin auf Abänderung des Arbeitsvertrags. Ein solches ergebe sich nicht etwa aus der unwirksamen Regelung der Nr. 3 Rahmenbetriebsvereinbarung.

Der Mitarbeiter konnte nicht erkennen, dass seine widerspruchslose Weiterarbeit nach Inkrafttreten der Rahmenbetriebsvereinbarung als Einverständnis mit einer Vertragsänderung über den Umfang seiner Arbeitszeit hätte verstanden werden können. Soweit er in der Folgezeit in einem seine vertraglichen Regelungen übersteigenden Umfang Arbeitsleistungen erbracht hat, erfolgte dies aus seiner Sicht in Vollziehung der Rahmenbetriebsvereinbarung. Dementsprechend sei es auch unerheblich, dass er regelmäßig die durch den Umfang der Schichtdauer bedingte Ausgleichsarbeit geleistet hat. Ebenso führe der Umstand, dass ihm die in Nr. 2 Rahmenbetriebsvereinbarung vorgesehene Lohnerhöhung gewährt wurde, zu keinem anderen Ergebnis.

Soweit die Arbeitgeberin geltend machte, die regelmäßige Arbeitszeit des Mitarbeiters habe bereits vor Inkrafttreten der Rahmenbetriebsvereinbarung 37,5 Wochenstunden betragen, fehle es an einem hinreichenden Vorbringen für die Annahme einer entsprechenden vertraglichen Änderung der Arbeitszeit. Der bloße Hinweis, dass nach Nummer 3 Absatz 1 Satz 2 Rahmenbetriebsvereinbarung die regelmäßige tägliche Arbeitszeit nur um 30 Minuten erhöht sein sollte, genüge nicht.

Der Mitarbeiter konnte auch eine Vergütung für geleistete Überstunden nach § 612 Absatz 1 BGB erwarten, so dass diese mangels ausdrücklicher Vereinbarung als stillschweigend vereinbart gilt. Dies ergebe sich schon daraus, dass im betreffenden Wirtschaftsbereich Tarifverträge gelten, die für vergleichbare Arbeiten eine Vergütung von Überstunden vorsehen.

Den Vergütungsansprüchen stehen die betrieblichen Arbeitszeitkontenregelungen nicht entgegen. sDie Regelung zur Einführung von Arbeitszeitkonten im gewerblichen Bereich erweise sich als unwirksam. Sie stelle ohne die Einführung der 40-Stunden-Woche keine sinnvolle und in sich geschlossene, praktikable Regelung mehr dar und könne die ihr zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen. Die Betriebsparteien hätten beide Regelungen materiell untrennbar miteinander verknüpft.

Auch der sonstige Inhalt beider Betriebsvereinbarungen zeige, dass die Arbeitszeitdauer einer 40-Stunden-Woche mit der Einführung von Arbeitszeitkonten im Betrieb untrennbar verknüpft war. Die inhaltliche Gestaltung der Regelungen bestätige, dass ohne Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden die Arbeitszeitkonten im gewerblichen Bereich nicht eingeführt worden wären. Die für alle gewerblichen Arbeitnehmer einzurichtenden Zeitkonten waren nach der erkennbaren Regelungsvorstellung der Betriebsparteien notwendig, weil die Dauer der wöchentlichen Schichtzeiten nicht mit der wöchentlichen Soll-Arbeitszeit von regelmäßig 40 Wochenstunden korrespondierte. Die Arbeitszeitkonten dienten der erfassungstechnischen Administration der 40-Stunden-Woche. Die Unwirksamkeit von Nr. 4 Absatz 1 RBV habe zur Folge, dass sämtliche Regelungen zur Ausgestaltung der Arbeitszeitkonten in Nr. 4 BV gegenstandslos sind.

Die Annahme des Berufungsgerichts, die Zahlung von Zuschlägen in Höhe von 25 % für jede geleistete Überstunde scheitere daran, dass der Mitarbeiter eine entsprechende betriebliche Übung nicht dargelegt habe, sei rechtsfehlerhaft. Insoweit habe es die Anforderungen an die Darlegungslast überspannt.

Der Mitarbeiter habe vorgetragen, dass im Zeitraum von 1991 bis 2002 mehreren von ihm namentlich genannten Arbeitnehmern entsprechende Zuschläge gezahlt worden seien. Dass er nicht im Einzelnen aufgezeigt hat, für welche konkret geleisteten Arbeitsstunden die Zuschläge gezahlt worden sind, sei unschädlich. Der Mitarbeiter habe keine Kenntnis über sämtliche im fraglichen Zeitraum von anderen Arbeitnehmern geleisteten und vergüteten Überstunden.

Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts müsse der Mitarbeiter nicht darlegen, dass er selbst im fraglichen Zeitraum Überstundenzuschläge erhalten habe. Eine bestehende betriebliche Übung komme allen Arbeitnehmern zugute, mit denen unter ihrer Geltung ein Arbeitsverhältnis begründet wird.

Stehe fest, dass Überstunden auf Veranlassung der Arbeitgeberin geleistet worden sind, könne aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für einzelne Überstunden nicht in jeder Hinsicht genügen, habe das Gericht den Umfang geleisteter Überstunden nach § 287 ZPO (Zivilprozessordnung) zu schätzen, sofern die Schätzung nicht mangels jeglicher konkreter Anhaltspunkte willkürlich wäre. Mit dem hilfsweisen Begehren des Mitarbeiters, Plusstunden in sein Arbeitszeitkonto einzustellen, sei eine Schätzung vorgenommen worden.

Der Rechtsfehler führe zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, soweit das Landesarbeitsgericht über die Klageanträge zur Überstundenvergütung entschieden hat.

Die Zahlungsansprüche seien auch nicht verwirkt. Es sei bereits nicht ersichtlich, dass die Arbeitgeberin bzw. ihre Rechtsvorgängerinnen Kenntnis von etwaigen Ansprüchen des Mitarbeiters auf Vergütung von Überstunden hatten. Der widerspruchslose Vollzug der Maßgaben von Nr. 3 und Nr. 4 Rahmenbetriebsvereinbarung genüge nicht.

Das Bundesarbeitsgericht könne keine eigene Entscheidung über die Klageanträge zur Überstundenvergütung treffen, da es an der Feststellung fehle, wieviel Überstunden der Mitarbeiter im streitigen Zeitraum geleistet hat. Selbst wenn feststehe, dass Überstunden geleistet wurden, könne eine tatrichterliche Schätzung ihres Umfangs lediglich dann erfolgen, wenn der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für jede einzelne Überstunde nicht nachkommen kann.

In die Schätzung seien Zeiträume eingeflossen, in denen der Mitarbeiter aufgrund von Erholungsurlaub, Arbeitsunfähigkeit oder einer Inanspruchnahme sog. Gleittage keine seine Normalarbeitszeit übersteigenden Arbeitsleistungen erbracht hat. Eine Berücksichtigung dieser Zeiträume scheide aus, weil es sich bei einem auf die Zahlung von Überstundenvergütung gerichteten Verlangen um einen anderen Streitgegenstand als bei einem auf ein höheres Urlaubsentgelt nach § 11 BUrlG (Bundesurlaubsgesetz) oder eine höhere Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach §§ 3, 4 EFZG (Entgeltfortzahlungsgesetz) gerichteten Begehren handelt. Entsprechendes gelte für die Fortzahlung von Vergütung für die Gewährung von sog. Gleittagen.

Die Vergütungshöhe der Überstunden sei auch differenziert zu betrachten, da die jährliche Vergütung zu bestimmten Zeitpunkten erhöht wurde. Ebenso wurde variabler Lohn bzw. eine Zulage in unterschiedlicher Höhe gewährt.

Die Anschlussrevision sei begründet, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Zahlung von Schichtzuschlägen für das Jahr 2014 wendet. Das Landesarbeitsgericht habe aber bei der Berechnung gegen § 308 Absatz 1 Satz 1 ZPO verstoßen.

Die Arbeitgeberin habe nicht in Abrede gestellt, dass und in welchem Umfang der Mitarbeiter im Jahr 2014 zuschlagspflichtige Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit erbracht hat. Auch die prozentuale Höhe der hierfür von ihr zu zahlenden Zuschläge stehe außer Streit. Da die Arbeitgeberin bei ihrer Berechnung der Zuschläge ausgehend von einer wöchentlichen Arbeitszeit des Mitarbeiters in Höhe von regelmäßig 40 Stunden einen zu niedrigen Stundenlohn zugrunde gelegt hat, habe der Mitarbeiter dem Grunde nach Anspruch auf Zahlung entsprechender Differenzbeträge.

Bei der Höhe der Differenzansprüche habe das Landesarbeitsgericht allerdings übersehen, dass es sich bei den verschiedenartigen Zuschlägen innerhalb eines Monats um unterschiedliche Streitgegenstände handele.

Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.