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Massenentlassungen und krankheitsbedingte Entlassungen

Überschreitung Schwellenwerte Massenentlassungen

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2021, Aktenzeichen 7 Sa 405/21

Auch krankheitsbedingte Entlassungen sind bei der Ermittlung des Schwellenwertes für Massenentlassungen zu berücksichtigen. Mit dem Betriebsrat sind Möglichkeiten zu beraten, wie Massenentlassungen vermieden oder eingeschränkt und deren Folgen gemindert werden können.

Ein bei der Arbeitgeberin bzw. deren Vorgängerinnen seit dem Jahr 2008 beschäftigter Luftsicherheitsassistent erhielt im Jahr 2017 an 62 Krankheitstagen Entgeltfortzahlung, im Jahr 2018 an 29 Tagen, im Jahr 2019 an 58 Tagen und im Jahr 2020 an 35 Tagen.

Im März 2020 führte die Arbeitgeberin mit dem Mitarbeiter ein Gespräch zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements.

Im November 2020 hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat zu einer beabsichtigten, krankheitsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Luftsicherheitsassistenten an. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung. Wenige Tage später kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zu Ende April 2021.

Versehentlich kam es, entgegen der Anweisung des Geschäftsführers der Arbeitgeberin, zu einem verfrühten Ausspruch von Kündigungen für Arbeitnehmer im Monat Dezember 2020, so dass im Unternehmen innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen mehr als 29 Kündigungen, nämlich 34, ausgesprochen wurden.

Im Januar 2021 hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat erneut zu einer weiteren krankheitsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Luftsicherheitsassistenten an. Der Betriebsrat widersprach erneut. Wenige Tage später sprach die Arbeitgeberin die Kündigung aus.

Gegen beide Kündigungen wandte sich der Luftsicherheitsassistent rechtzeitig beim Arbeitsgericht. Hinsichtlich der ersten Kündigung fehle es an einer Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit sowie an der Durchführung eines Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat. Es liege auch keine negative Gesundheitsprognose vor. Eine im Jahr 2017 aufgetretene Analfissur sei ausgeheilt. Er sei im August 2017 deswegen operiert worden und ca. 1 Woche im Krankenhaus verblieben. Dies gehe aus den Bescheinigungen seines Arztes und seiner Krankenkasse hervor. Einschließlich der Nachuntersuchung sei er bis Ende September 2017 aus diesem Grund krankgeschrieben gewesen.

Die Fibromatrose, an der er im Juni 2018 erkrankt war, sei ausgeheilt. Im Übrigen habe er an typischen Kurzzeiterkrankungen gelitten, insbesondere Erkältungsschnupfen. Grundsätzlich heilten solche Krankheiten von selbst, so auch bei ihm.

Der Luftsicherheitsassistent beantragte festzustellen, dass die Kündigungen vom November 2020 sowie Januar 2021 das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst haben, hilfsweise ihn bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung als Luftsicherheitsassistenten am Flughafen weiter zu beschäftigen.

Die Arbeitgeberin argumentierte, die Fehlzeiten beruhten auf Kurzkrankheiten, die auch zukünftig auftreten könnten. Die Arbeitgeberin sei besorgt über zukünftig überdurchschnittliche Fehlzeiten. In den Jahren 2017 bis 2020 seien Lohnfortzahlungskosten für 184 Tage und damit mehr als 6 Wochen pro Jahr aufgewendet worden. Basierend auf der negativen Gesundheitsprognose seien weitere Entgeltfortzahlungskosten in vergleichbarem Umfang für die Zukunft zu erwarten. Die Krankheitszeiten des Luftsicherheitsassistenten führten auch zu erheblichen Betriebsablaufstörungen. Jede Meldung einer krankheitsbedingten Abwesenheit führe zu einem erheblichen Mehraufwand für die Mitarbeiter im Planungsbüro und damit zu einer ständigen Überlastung der dort tätigen Mitarbeiter. Bei dem Ausmaß der Erkrankung des Luftsicherheitsassistenten seien die häufigen, unvorhersehbaren Fehlzeiten für die betriebliche Disposition nicht berechenbar.

Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Die Kündigung vom November 2020 sei bereits wegen nicht erstatteter Massenentlassungsanzeige und nicht durchgeführtem Konsultationsverfahren nach § 17 Absatz 1 bis 3 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) in Verbindung mit § 134 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) unwirksam. Die Auslegung der Norm ergebe, dass sie auch krankheitsbedingte Kündigungen erfasse. Beide Kündigungen seien zudem unwirksam, da sie nicht durch Gründe in der Person des Luftsicherheitsassistenten gerechtfertigt seien.

Die für eine krankheitsbedingte Kündigung notwendige negative Gesundheitsprognose liege mangels einer Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen pro Kalenderjahr nicht vor. Angesichts der Schichtzeiten des Luftsicherheitsassistenten arbeite er nicht in einer Fünf-Tage-Woche, sondern in einer 5,71-Tage-Woche, weshalb die maßgeblichen sechs Wochen nicht schon bei 30 Fehltagen, sondern erst bei 34,26 Fehltagen erreicht seien.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legte die Arbeitgeberin Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein.

Nach dem Wortlaut der europäischen MERL (Massenentlassungsrichtlinie – Richtlinie 98/59/EG, „MERL“) seien Massenentlassungen solche Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer lägen, vornehme. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der deutsche Gesetzgeber eine hiervon abweichende Regelung habe treffen wollen. Folglich sei § 17 KSchG, der die MERL in das deutsche Recht umsetze, auf personenbedingte Kündigungen nicht anwendbar.

Der Luftsicherheitsassistent sei in den Jahren 2017 bis 2020 durchschnittlich an 64,75 Tagen arbeitsunfähig erkrankt gewesen, so dass Krankheitszeiten weit über den sechs Wochen des Entgeltfortzahlungszeitraums angefallen seien.

Das Landesarbeitsgericht entschied, das Arbeitsgericht habe der Klage zurecht stattgegeben. Die Kündigung vom November 2020 sei bereits wegen nicht erstatteter Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Absatz 3 KSchG in Verbindung mit § 134 BGB und nicht durchgeführtem Konsultationsverfahren gemäß § 17 Absatz 2 KSchG in Verbindung mit § 134 BGB unwirksam. Zwischen den Parteien sei unstreitig, dass der Schwellenwert des § 17 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 KSchG im Hinblick auf die Kündigung vom November 2020 überschritten wurde. Im Zeitraum vom 25.11.2020 bis 22.12.2020 und damit innerhalb von 30 Tagen sprach die Arbeitgeberin mehr als 29 Kündigungen, nämlich 34, aus.

Personen- bzw. krankheitsbedingte Kündigungen seien bei der Berechnung des Schwellenwertes zu berücksichtigen. Der Wortlaut des § 17 KSchG spreche lediglich von Entlassungen und grenze diese nicht ihrer Ursache nach ein. Personen- und verhaltensbedingte Entlassungen würden daher vom Wortlaut der Norm ebenso erfasst, wie betriebsbedingte Entlassungen.

Die sozioökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen sollen aufgefangen werden um u.a. der Agentur für Arbeit die Möglichkeit geben, Maßnahmen zur Vermeidung oder Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarktes einzuleiten. Die Belastung des Arbeitsmarktes und der Agentur für Arbeit sei aber unabhängig davon, aus welchen Gründen die Entlassungen vorgenommen werden.

Die MERL gelte nur für Entlassungen, die nicht in der Person des Arbeitnehmers begründet sind. Es sei aber den Mitgliedsländern überlassen über diese europäischen Vorgaben hinauszugehen. Die Kündigung vom November 2020 sei auch deshalb unwirksam, da sie nicht durch Gründe, die in der Person des Luftsicherheitsassistenten begründet sind, sozial gerechtfertigt ist.

Eine auf krankheitsbedingte Fehlzeiten gestützte ordentliche Kündigung setze zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssten objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen (erste Stufe). Die prognostizierten Fehlzeiten seien nur geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen (zweite Stufe). Ist dies der Fall, sei im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen von der Arbeitgeberin billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe).

Darauf basierend, sei die Kündigung wegen fehlender betrieblicher Beeinträchtigungen durch die krankheitsbedingten Ausfälle des Luftsicherheitsassistenten unwirksam. Gegenüber ihrem Betriebsrat habe die Arbeitgeberin zur Betriebsratsanhörung vielmehr mitgeteilt, dass für 2018 an 29 Tagen und im Jahr 2020 an 35 Tagen Entgeltfortzahlung geleistet wurde. Nach Maßgabe dieses Vortrags lasse sich nicht feststellen, dass die Arbeitgeberin in den letzten drei Jahren vor Ausspruch der Kündigung jeweils mehr als sechs Wochen pro Jahr Entgeltfortzahlung geleistet hätte.

Für die Feststellung der wirtschaftlichen Beeinträchtigungen seien zudem solche Krankheitszeiten herauszurechnen, die, wie eine einmalige Krankheit oder ein Arbeitsunfall, auch bei der Erstellung der Gesundheitsprognose nicht zu berücksichtigen gewesen wären. Legt man dies zugrunde, reduzierten sich die zu berücksichtigenden mit Entgeltfortzahlung belegten Zeiten weiter, so dass ausreichende wirtschaftliche Belastungen nicht vorlägen.

Allein der Umstand, dass die Arbeitgeberin den Einsatz des Luftsicherheitsassistenten aufgrund seiner möglichen krankheitsbedingten Fehlzeiten in Zukunft nur eingeschränkt planen könne, reiche zur Feststellung betrieblicher Beeinträchtigungen nicht aus.

Von der Arbeitgeberin wurde nicht behauptet, dass die Ausfallzeiten des Luftsicherheitsassistenten dagegen dazu geführt hätten, dass der Auftrag am Flughafen nicht oder auch nur teilweise nicht ausgeführt werden konnte, also tatsächliche Betriebsablaufstörungen vorgelegen hätten.

Die Kündigung vom Januar 2021 sei aus denselben Gründen wie die Kündigung vom November 2020 ausgesprochen worden. Sie sei daher wie die Kündigung vom November 2020 unwirksam, da sie nicht durch Gründe, die in der Person des Luftsicherheitsassistenten begründet sind, sozial gerechtfertigt ist. Die Kündigung scheitere an den nicht gegebenen betrieblichen Beeinträchtigungen.

Ein Rechtsmittel zu dieser Entscheidung wurde nicht zugelassen.