Bundesarbeitsgericht (5. Senat), Urteil vom 12.02.2025, Aktenzeichen 5 AZR 127/24
Leitsatz:
Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ordentlich und stellt den Arbeitnehmer trotz dessen Beschäftigungsanspruchs von der Arbeit frei, unterlässt der Arbeitnehmer in der Regel nicht böswillig iSd. § 615 Satz 2 BGB anderweitigen Verdienst, wenn er nicht schon vor Ablauf der Kündigungsfrist ein anderweitiges Beschäftigungsverhältnis eingeht.
Sachverhalt:
Der Kläger war seit 2019 als Senior Consultant bei der Beklagten beschäftigt. Am 29. März 2023 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. Juni 2023 und stellte den Kläger ab dem 3. April 2023 nach Gewährung von Resturlaub unwiderruflich von der Arbeit frei. Im Kündigungsschreiben wurde darauf hingewiesen, dass Einkünfte aus einer anderweitigen Beschäftigung im Freistellungszeitraum auf die Vergütung angerechnet würden.
Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage, welcher das Arbeitsgericht und in der Berufung das Landesarbeitsgericht stattgaben. Die Beklagte zahlte für Juni 2023 keine Vergütung mehr, woraufhin der Kläger Annahmeverzugslohn einklagte. Die Beklagte argumentierte, der Kläger habe böswillig unterlassen, sich auf zahlreiche von ihr übermittelte Stellenangebote zu bewerben, und müsse sich daher fiktiven Verdienst anrechnen lassen.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, das Landesarbeitsgericht gab ihr statt. Die Beklagte legte Revision ein, die nun vom BAG zurückgewiesen wurde.
Annahmeverzug und Beschäftigungsanspruch:
Das BAG stellt klar, dass sich die Beklagte ab dem Zeitpunkt der Freistellung im Annahmeverzug befand (§ 615 Satz 1 BGB). Der Kläger hatte weiterhin einen Beschäftigungsanspruch, da die Beklagte nicht dargelegt hatte, warum die Weiterbeschäftigung unzumutbar gewesen wäre.
Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes (§ 615 Satz 2 BGB):
Grundsatz:
Nach § 615 Satz 2 BGB muss sich der Arbeitnehmer auf den Annahmeverzugslohn anrechnen lassen, was er böswillig zu erwerben unterlassen hat. „Böswillig“ bedeutet, dass der Arbeitnehmer vorsätzlich und in Kenntnis aller Umstände eine zumutbare Beschäftigung nicht aufnimmt oder verhindert.
Keine Pflicht zur anderweitigen Beschäftigung während der Kündigungsfrist:
Das BAG betont, dass der Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist, solange das Arbeitsverhältnis noch besteht und der Beschäftigungsanspruch fortdauert, grundsätzlich nicht verpflichtet ist, eine neue Beschäftigung anzunehmen. Es widerspräche Treu und Glauben (§ 242 BGB), dem Arbeitnehmer zuzumuten, sich während der Kündigungsfrist um eine andere Stelle zu bemühen, um den Arbeitgeber finanziell zu entlasten, der selbst seine Beschäftigungspflicht verletzt.
Abgrenzung zu § 11 Nr. 2 KSchG:
Nach Ablauf der Kündigungsfrist – also nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses – ist der Arbeitnehmer hingegen verpflichtet, sich um eine neue Stelle zu bemühen, andernfalls kann ihm böswillig unterlassener Verdienst angerechnet werden. Während der laufenden Kündigungsfrist gilt dies jedoch nicht.
Arbeitsvertragliche Regelungen:
Im Arbeitsvertrag war lediglich die Anrechnung tatsächlich erzielter Einkünfte während der Freistellung vorgesehen, nicht aber fiktiv unterlassener Verdienst. Nach Auslegung der Vertragsklauseln und unter Berücksichtigung von § 305c Abs. 2 BGB (Zweifel bei der Auslegung gehen zulasten des Verwenders) war eine Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes nicht vorgesehen.
Substantiierung der Einwendung:
Die Beklagte hatte zwar zahlreiche Stellenangebote an den Kläger weitergeleitet, jedoch nicht nachgewiesen, dass der Kläger eine dieser Stellen im Juni 2023 hätte antreten können oder dass die Angebote zum Zeitpunkt der Übermittlung noch aktuell waren. Auch fehlte es an Angaben zu den konkret erzielbaren Verdiensten. Damit fehlte es an einer hinreichenden Substantiierung für eine Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO.
Ergebnis:
Das BAG bestätigt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts:
– Der Kläger hat Anspruch auf Annahmeverzugslohn für Juni 2023.
– Eine Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes kommt während der Kündigungsfrist bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis und Beschäftigungsanspruch grundsätzlich nicht in Betracht.
– Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen, sie trägt die Kosten des Verfahrens.
Bedeutung der Entscheidung:
Stärkung des Beschäftigungsanspruchs:
Das Urteil stärkt die Rechte von Arbeitnehmern, die während der Kündigungsfrist freigestellt werden. Sie müssen sich in dieser Zeit nicht aktiv um eine neue Beschäftigung bemühen, solange das Arbeitsverhältnis formal besteht und der Arbeitgeber keine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung nachweist.
Beschränkung der Arbeitgeberrechte:
Arbeitgeber können sich während der Kündigungsfrist nicht darauf berufen, dass Arbeitnehmer böswillig anderweitigen Verdienst unterlassen hätten, wenn diese keine neue Stelle antreten. Erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses besteht eine aktive Mitwirkungspflicht des Arbeitnehmers zur Schadensminderung.
Vertragsgestaltung:
Das Urteil betont die Bedeutung klarer arbeitsvertraglicher Regelungen. Arbeitgeber, die eine Anrechnung fiktiv unterlassenen Verdienstes wünschen, müssen dies ausdrücklich und eindeutig im Arbeitsvertrag regeln.
Praktische Konsequenzen:
Für Arbeitnehmer:
Sie können sich während der Kündigungsfrist auf ihren Beschäftigungsanspruch berufen und müssen keine neue Stelle suchen oder antreten, solange das Arbeitsverhältnis besteht.
Bei Freistellung während der Kündigungsfrist bleibt die Vergütungspflicht grundsätzlich bestehen
Für die Praxis:
Das Urteil bringt Rechtssicherheit für beide Seiten und verdeutlicht die Unterschiede zwischen der Zeit während und nach der Kündigungsfrist bezüglich der Obliegenheiten des Arbeitnehmers.
Fazit:
Das BAG hat klargestellt, dass Arbeitnehmer während einer Freistellung in der Kündigungsfrist grundsätzlich nicht verpflichtet sind, eine neue Beschäftigung anzunehmen oder sich aktiv zu bewerben. Der Annahmeverzugslohnanspruch bleibt bestehen, solange der Arbeitgeber den Beschäftigungsanspruch verletzt und keine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung nachweist. Arbeitgeber können sich nicht auf eine Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes berufen, wenn der Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist keine neue Stelle antritt. Das Urteil stärkt die Rechte von Arbeitnehmern und schafft Klarheit für die arbeitsrechtliche Praxis.