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Anspruch des Betriebsrats auf Einsicht in nicht-anonymisierte Gehaltslisten trotz Widerspruch einzelner Mitarbeiter

Landesarbeitsgericht Sachsen, Beschluss vom 26.05.2025, Aktenzeichen 2 TaBV 8/24

Sachverhalt und Hintergrund:

Im Verfahren stritten Betriebsrat und Arbeitgeberin über die Verpflichtung, dem Betriebsrat Einsicht in nicht-anonymisierte Bruttolohn- und Gehaltslisten für bestimmte Arbeitnehmer zu gewähren. Die Listen betrafen die Monate Mai und Juni 2023. Fünf Arbeitnehmer hatten der Einsicht ausdrücklich widersprochen und ein standardisiertes Schreiben vorgelegt. Ein zentraler Aspekt war die Rolle eines der Mitarbeiter, dem Prokura erteilt wurde – die tatsächliche Bedeutung dieser Vollmacht für den Status als „leitender Angestellter“ war umstritten. Der Betriebsrat wollte die Einhaltung der Gleichbehandlung und Lohngerechtigkeit im Betrieb überprüfen, da Hinweise auf Ungleichbehandlung durch Prämien und Gehaltsunterschiede bestanden.

Verlauf des Verfahrens und Positionen der Parteien:

Der Betriebsrat beantragte vor dem Arbeitsgericht die Einsichtnahme in die Gehaltslisten und begründete dies mit seiner Überwachungspflicht gemäß Betriebsverfassungsgesetz. Die Arbeitgeberin lehnte ab; sie berief sich auf Individualrechte und Datenschutz, monierte ein fehlendes Datenschutzkonzept im Betriebsrat und argumentierte, die Prokura mache den betreffenden Mitarbeiter zum leitenden Angestellten, der nicht vom Betriebsrat vertreten werde. Sie bezweifelte zudem, dass der Betriebsrat hinreichend im Umgang mit vertraulichen Daten geschult sei, und befürchtete einen Missbrauch der sensiblen Informationen. Die Auseinandersetzung zielte auf den Ausgleich zwischen kollektiven Interessen (Transparenz/Gleichbehandlung) und individuellen Datenschutzinteressen der Arbeitnehmer.

Rechtliche Erwägungen des Gerichts:

Das Landesarbeitsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung zugunsten des Betriebsrats. Die Kammer stellte fest, dass die Einsichtnahme in Bruttolohn- und Gehaltslisten zur Kontrolle von Gleichbehandlung und Lohngerechtigkeit durch den Betriebsrat erforderlich und durch § 80 Abs. 2 Satz 2 BetrVG explizit abgesichert sei. Das Gesetz gewährt dem Betriebsrat ein vollumfängliches Einsichtsrecht, unabhängig von den individuellen Widersprüchen der Arbeitnehmer. Datenschutzrechtliche Bedenken (DSGVO/BDSG) seien nach aktueller Rechtsprechung durch gesetzliche Vorgaben ausreichend aufgefangen, da ein überwiegendes kollektives Interesse und eine rechtliche Verpflichtung bestehen. Ein Einspruch einzelner Arbeitnehmer nach DSGVO bleibt insoweit ohne Wirkung, solange die gesetzlichen Voraussetzungen gewahrt sind. Das Gericht betont, dass Widersprüche nur bei sensiblen Angaben oder nachgewiesener Missbrauchsgefahr zu berücksichtigen seien – pauschale Vermutungen oder Angst vor Datenmissbrauch reichen nicht aus.

Die Kammer lehnte die Annahme ab, dass die bloße Erteilung der Prokura für die Qualifikation als leitender Angestellter ausreicht. Vielmehr muss die Prokura im Innenverhältnis zum Unternehmen von erheblicher Bedeutung sein; dies war nach den tatsächlichen Umständen (Abwesenheit des Geschäftsführers, keine selbständigen Einstellungs- und Kündigungsbefugnisse) nicht der Fall. Der Mitarbeiter wurde daher nicht als leitender Angestellter eingestuft und bleibt im Anwendungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes.

Ergebnis und Begründung des Beschlusses: 

Das Landesarbeitsgericht wies die Beschwerde der Arbeitgeberin zurück und bestätigte die Verpflichtung, dem Betriebsrat Einsicht in die Bruttolohn- und Gehaltslisten sämtlicher betroffener Arbeitnehmer zu gewähren – auch jener, die widersprochen hatten. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen, da der Beschluss auf den klaren gesetzlichen Vorgaben und höchstrichterlicher Rechtsprechung basiert.

Der Betriebsrat ist berechtigt, die Listen einzusehen, darf diese jedoch nicht kopieren oder abfotografieren; lediglich handschriftliche Notizen sind gestattet. Die Verpflichtung zur Vorlage zur Einsicht erstreckt sich auf alle Lohnbestandteile, unabhängig von ihrer rechtlichen Grundlage. Individuelle Vertragsfreiheit und Einwände der Arbeitgeberin vermögen das Kollektivrechts des Betriebsrats hier nicht zu beschränken. Für die Datenverarbeitung genügt die Einhaltung grundlegender Datenschutzmaßnahmen, ein spezielles Schutzkonzept muss nur bei sensiblen Gesundheitsdaten vorliegen, nicht bei Gehaltsdaten. Bestehen ernsthafte Bedenken an der Geheimhaltung im Betriebsrat, müssen diese konkret nachgewiesen werden; bloße Behauptungen einer Weitergabe oder Instrumentalisierung der Daten sind unbeachtlich.

Bewertung, Folgen und Bedeutung für die Praxis:

Der Beschluss stärkt die kollektiven Kontrollrechte von Betriebsräten bei der Überwachung der Gleichbehandlung und Transparenz von Vergütungen. Er ordnet das Verhältnis von individuellen Datenschutzinteressen und betrieblichen Kontroll- sowie Informationsrechten eindeutig im Sinne des Kollektivs. Die vom Gericht gezogene klare Abgrenzung im Status „leitender Angestellter“ verhindert eine missbräuchliche Ausdehnung dieses Sonderstatus durch reine Formalien wie die Erteilung der Prokura. Wichtig ist auch die Feststellung, dass ein Datenschutzkonzept beim Betriebsrat bei Gehaltsdaten nicht zwingend nötig ist, das allgemeine datenschutzrechtliche Schutzniveau jedoch einzuhalten bleibt.

Praktisch bedeutet der Beschluss für Unternehmen:

•       Betriebsräte dürfen umfassend Einsicht in Gehaltslisten verlangen und erhalten, auch bei widersprechenden Arbeitnehmern.

•       Widersprüche und Datenschutzbedenken können nur erfolgreich geltend gemacht werden, wenn konkrete Missbrauchs- oder Gefahrenfälle nachgewiesen werden.

•       Der Schutz der individuellen Daten ist nicht absolut, sondern muss im betrieblichen Zusammenhang und bei gesetzlicher Pflicht zurückstehen.

•       Die Einstufung als „leitender Angestellter“ bleibt an tatsächliche unternehmerische Leitungsaufgaben gebunden, nicht an formale Titulierung oder Vollmachten allein.

•       Die Zuweisung betrieblicher Aufgaben und die damit verbundenen Zugriffsrechte sind durch den Betriebsverfassungsrechtsspruch grundsätzlich abgesichert, was eine Stärkung der betrieblichen Demokratie und Handlungsmöglichkeiten bedeutet.