Gesamtbetriebsvereinbarungen gelten nach einem Betriebsübergang weiter
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 05.05.2015, Aktenzeichen 1 AZR 763/13
Wird ein Betrieb im Rahmen eines Betriebsübergangs veräußert, gilt eine Gesamtbetriebsvereinbarung weiter, falls der von der Vereinbarung umfasste Geltungsbereich nicht bereits normativ geregelt ist.
Ein Beschäftigter beanspruchte auf Basis einer Gesamtbetriebsvereinbarung für die Alters- und Hinterbliebenenversorgung betriebliche Rentenansprüche.
Die Gesamtbetriebsvereinbarung entstand im Vorgängerunternehmen. Der spätere Betriebsübergang fand 2 Jahre vor dem Beschäftigungsbeginn des Mitarbeiters statt. 7 Jahre nach dem Betriebsübergang wurde der Betrieb von einem neu gegründeten Unternehmen übernommen. Später folgten ein Gesellschafterwechsel und eine weitere Umfirmierung.
In einer Betriebsvereinbarung wurde 12 Jahre nach dem Betriebsübergang rückwirkend geregelt, dass die Gesamtbetriebsvereinbarung für alle Mitarbeiter weiterhin gelte, die vor dem Betriebsübergang durch die Vereinbarung begünstigt wurden. Nach dem Übergang eingestellte Mitarbeiter hätten jedoch keine Ansprüche aus dieser Vereinbarung.
Nach dem Abschluss dieser Betriebsvereinbarung beantragte der Mitarbeiter beim Arbeitsgericht die Feststellung, dass er bei Eintritt des Versorgungsfalles Ansprüche auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach den Richtlinien der Gesamtbetriebsvereinbarung, sowie einer späteren Betriebsvereinbarung und Besitzstandsregelung habe. Die Arbeitgeberin beantragte die Abweisung der Klage.
Das Arbeitsgericht entsprach dem Antrag. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Klage auf die Berufung der Arbeitgeberin zurück.
Vor Zustellung des LAG-Urteils wurde ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet sowie die Eigenverwaltung des Insolvenzvermögens angeordnet. Der Beschäftigte meldete, auf Basis einer ihm vom Pensions-Sicherungs-Verein für Rentenanwartschaften/Pensionsansprüche (PSVaG) erteilten Ermächtigung, seine Ansprüche zur Insolvenztabelle an, was vom Sachverwalter bestritten wurde.
Nachdem der Insolvenzplan vom Amtsgericht Bonn rechtskräftig bestätigt war, wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben.
Noch während des Insolvenzverfahrens legte der Mitarbeiter Revision gegen das Urteil des LAG ein und begründete diese beim Bundesarbeitsgericht (BAG). Er beantragte die Feststellung, dass seine Forderungen zur Aufnahme in die Insolvenztabelle auf die PSVaG übergegangen sind.
Das BAG stellte fest, das Berufungsverfahren war zum Zeitpunkt der Zustellung wegen der Insolvenzeröffnung gegenüber der Arbeitgeberin nach § 240 Satz 1 ZPO (Zivilprozessordnung) unterbrochen. Die Verfahrensunterbrechung trete auch dann ein, wenn kein Insolvenzverwalter bestellt wurde, sondern die Eigenverwaltung durch die Schuldnerin angeordnet wurde.
Das Berufungsurteil sei nicht wirksam zugestellt worden, da Zustellungen im Unterbrechungszeitraum generell unwirksam seien. Es komme dabei nicht darauf an, ob das zustellende Gericht Kenntnis vom Insolvenzverfahren habe. Unwesentlich sei auch, dass das Urteil bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verkündet wurde. Eine Verfahrensinstanz sei erst mit Eintritt der formellen Rechtskraft oder der Einlegung des Rechtsmittels abgeschlossen.
Die fehlerhafte Zustellung sei mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens geheilt worden.
Unabhängig von der Zustellung habe der Mitarbeiter nach Maßgabe der GBV 87 (Gesamtbetriebsvereinbarung) Anspruch auf Gewährung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung erworben. Die GBV galt nach dem Betriebsübergang als Einzelbetriebsvereinbarung fort.
Bei einer identitätswahrenden Übertragung nur eines Betriebs auf einen anderen Rechtsträger und dessen unveränderter Fortführung durch den Erwerber gelten die bestehenden Betriebsvereinbarungen unverändert normativ fort.
Der Inhalt einer Gesamtbetriebsvereinbarung betreffe betriebliche Angelegenheiten, die lediglich auf der Rechtsebene des Unternehmens normativ ausgestaltet werden. Bei einem identitätswahrenden Betriebsübergang bestehe das bisherige Regelungssubjekt und Regelungsobjekt der Gesamtbetriebsvereinbarung unverändert fort. Die normative Geltung ihres Regelungsgegenstands sei nicht an die Beibehaltung einer – der Betriebsverfassung ohnehin fremden – „Unternehmensidentität“ gebunden. Der Inhalt einer Gesamtbetriebsvereinbarung trete als gleichermaßen in dem Betrieb geltendes Regelwerk neben die in den erfassten betrieblichen Einheiten geltenden Betriebsvereinbarungen. Dieses Nebeneinander bleibe bestehen, wenn ein Betrieb unter Wahrung seiner Identität auf einen anderen Rechtsträger übertragen werde.
Den Interessen des übernehmenden Rechtsträgers werde dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass dieser – sofern nicht ohnehin nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) dessen Kollektivrecht zur Anwendung kommt – mit der zuständigen Arbeitnehmervertretung oder mithilfe der im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Konfliktlösungsmöglichkeiten Regelungen treffen kann, durch die der Inhalt der Betriebsvereinbarung unternehmensbezogen angepasst werden kann.
Schließlich führe der Wegfall des Gesamtbetriebsrats auch nicht zur Beendigung der normativen Wirkung der von ihm abgeschlossenen Vereinbarungen. Ein zunächst bestehendes überbetriebliches Regelungsbedürfnis iSd. § 50 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) kann nach Abschluss einer Gesamtbetriebsvereinbarung entfallen, was aber deren Geltung nicht infrage stellt, sondern nur zur Zuständigkeit der Einzelbetriebsräte für die weitere Ausgestaltung der Angelegenheit führt.
Die vorstehenden Grundsätze gelten gleichermaßen für Gesamtbetriebsvereinbarungen über Leistungen der betrieblichen Altersversorgung.
Normative Regelungen gelten bei einem Betriebsübergang nach ihrer Transformation gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als Inhalt des Arbeitsverhältnisses beim Betriebserwerber statisch weiter. Dieser muss die Verpflichtung aus dem zuvor geltenden Kollektivrecht gegenüber den übergegangenen Arbeitnehmern erfüllen. Dies gilt auch bei einer durch Betriebsvereinbarung begründeten Versorgungszusage des Veräußerers. Nach Betriebsübergang neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer erwerben hingegen aus den zuvor geltenden normativen Regelungen keine Ansprüche.
Über die vom Mitarbeiter für den Pensions-Sicherungs-Verein geltend gemachten rechnerischen Wert sei in den Vorinstanzen kein Sachvortrag gehalten worden. Das führe zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht.
In der Sache wird das Landesarbeitsgericht unter Berücksichtigung des zu erwartenden Parteivortrags darüber zu befinden haben, ob die vom Kläger bis zu seinem Ausscheiden erworbene Versorgungsanwartschaft unverfallbar war und mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf den Pensions-Sicherungs-Verein übergegangen ist. Hierbei wird es die im April 2005 zwischen den Betriebsparteien vereinbarte Aufhebung der GBV 87 zu berücksichtigen haben, zu der sich die angefochtene Entscheidung – aus ihrer Sicht konsequent – nicht verhalten hat.