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Kriterien für Massenentlassungen

Auslegung der Kriterien für Massenentlassungen

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 13.05.2015, Aktenzeichen  C-392/13

Ein Unternehmen darf nicht anstelle eines Betriebes als Referenzeinheit für Massenentlassungen gewählt werden, wenn damit die Kriterien einer Massenentlassung unterlaufen werden.

Ein spanisches Unternehmen bestand aus zwei Betrieben. Im größeren Betrieb mit 164 Beschäftigten wurden wegen zurückgehenden Umsatzes sowie Verlusten im Vorjahr und Verlustprognosen für das laufende Jahr 14 Arbeitnehmer entlassen.

Im folgenden Monat wurden zwei Arbeitsverhältnisse im größeren Betrieb in Madrid und im Monat darauf ein Arbeitsverhältnis im kleineren Betrieb in Barcelona beendet. In den beiden nachfolgenden Monaten wurden in beiden Betrieben insgesamt fünf befristete Arbeitsverträge beendet.

Im nächsten Monat wurden im kleineren Betrieb 13 Arbeitnehmer aus wirtschaftlichen, produktionsbedingten und organisatorischen Gründen, die das Unternehmen zwängen, den Betrieb zu schließen, entlassen. Es waren im Wesentlichen die gleichen Entlassungsgründe wie für die ersten 14 Entlassungen.

Einer der zur Betriebsschließung des kleineren Betriebes entlassenen 13 Mitarbeiter klagte gegen seine Entlassung. Die Arbeitgeberin habe das für Massenentlassungen zwingende Verfahren nach Richtlinie 98/59 EG betrügerisch umgangen. Die Schließung des kleineren Betriebes könne als Massenentlassung angesehen werden, weil die Entlassung des gesamten Personals der Schließung des Unternehmens oder der Beendigung der Geschäftstätigkeit gleichzustellen sei.

Das mit dem Fall befasste spanische Gericht richtete in diesem Zusammenhang Fragen an den Europäischen Gerichtshof, mit denen Auslegungen der europäischen Richtlinie 98/59 EG vom 20.Juli 1998 über Massenentlassungen geklärt werden sollten.

Das spanische Gericht trug vor, falls die in den Vormonaten erfolgten Beendigungen von 5 befristeten Arbeitsverhältnissen den 13 Entlassungen hinzugezählt würden, ergebe sich eine Gesamtzahl von 18 Entlassungen, die den Schwellenwert von 10% des Personals für Massenentlassungen überschreitet.

Dafür sei zunächst zu klären, ob sich der Grund für die kollektive Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus demselben Rahmen der kollektiven Einstellung für die gleiche Dauer oder die gleiche Leistung ergebe.

Weiterhin sei deshalb zu klären, ob die Richtlinie 98/59 EG dahin auszulegen sei, dass für die Berechnung der Zahl der Entlassungen, die für eine Einstufung als „Massenentlassung“ erforderlich seien, die Beendigungen von Arbeitsverhältnissen zu berücksichtigen seien, die sich aus dem Ablauf individueller Arbeitsverträge ergäben.

Der Begriff Massenentlassung in der Richtlinie 98/59 EG umfasse sämtliche Entlassungen, die von der Arbeitgeberin veranlasst wurden und nicht in der Person des Arbeitnehmers stehen. Hierzu wollte das spanische Gericht die Klärung der Frage, ob die europäische Regelung damit einer nationalen Regelung entgegen steht, in der die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Massenentlassungen auf wirtschaftliche, technische, organisatorische oder produktionsbedingte Gründe begrenzt wird.

Schließlich sollte die Definition des Begriffes Betrieb nach der europäischen Richtlinie 98/59 EG klargestellt werden.

Würde der Schwellenwert von 10 Arbeitnehmern auf den kleineren Betrieb angewandt, so wäre nach Ansicht des antragstellenden Gerichtes nach Artikel 1 Absatz 1, Unterabsatz 1, Buchstabe A, der Richtlinie 98/59 EG die gleichzeitige Entlassung von 13 Arbeitnehmern als Massenentlassung zu bewerten.

Die spanische Regierung als 100%-tige Gesellschafterin des Unternehmens hatte dem spanischen Gericht vorgetragen, von der durch Artikel 5 der Richtlinie 98/59 EG eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht zu haben, für die Arbeitnehmer günstigere Rechtsvorschriften zu erlassen. Insbesondere habe sie nicht den Betrieb, sondern das Unternehmen als Referenzeinheit festgelegt. Das spanische Gericht wollte wissen, ob die betreffende nationale Regelung mit der Richtlinie im Einklang stehe.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) führte aus, der Begriff Betrieb sei ein unionsrechtlicher Begriff, der nicht von einzelnen Staaten definiert werden könne. Der Begriff Betrieb bezeichne eine Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben angehörten. Es sei nicht entscheidend, ob die Einheit eine Leitung habe, die selbständig Massenentlassungen vornehmen kann. Ein Betrieb könne im Rahmen eines Unternehmens eine unterscheidbare Einheit mit einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität sein, die zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern und Produktionsmitteln verfügt. Der Betrieb sei normalerweise Teil eines Unternehmens. Verfüge ein Unternehmen nicht über unterscheidbare Einheiten, könnten der Betrieb und das Unternehmen identisch sein.

Die beiden Betriebe verfügten über eine einzige für die Produktion verantwortliche Person und eine gemeinsame Buchhaltung, sowie über im Wesentlichen identische Aufgaben. Der kleinere Betrieb in Barcelona habe jedoch einen eigenen Betriebsleiter, der mit der Koordinierung der Aufgaben vor Ort beauftragt war. Damit erfülle der kleinere Betrieb die Anforderungen der europäischen Richtlinie 98/59 EG.

 Die Ersetzung des Begriffs Betrieb durch den Begriff Unternehmen könne nur dann als für die Arbeitnehmer günstig angesehen werden, wenn es sich dabei um ein ergänzendes Element handele, das nicht zur Aufgabe oder Verringerung des Schutzes der Arbeitnehmer für die Einstufung der Zahl an Entlassungen als Massenentlassung führe.

Sieht also eine nationale Rechtsvorschrift als Referenzeinheit das Unternehmen und nicht den Betrieb vor, und wird damit das in der europäischen Richtlinie vorgesehene Informations- und Konsultationsverfahren vereitelt, obwohl die Entlassungen als Massenentlassungen zu definieren wären, wenn der Betrieb als Referenzeinheit gelten würde, so steht diese Regelung im Widerspruch zu Artikel 1 Abs. 1 Unterabsatz 1 Buchstabe a der europäischen Richtlinie 98/59/EG vom 20. Juli 1998.

Für beide Betriebe ergebe sich jedoch im vorliegenden Fall, dass die Schwellenwerte der Richtlinie 98/59 EG nicht erreicht wurden.

Weiterhin stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass individuell begrenzte Arbeitsverträge bei Massenentlassungen nicht zu berücksichtigen sind, wenn deren Beendigung auf dem Ablauf des Vertrages oder der Erfüllung der Tätigkeit beruht.

Für die Feststellung des Vorliegens von Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen wurden, sei es nicht erforderlich, dass sich der Grund für diese Massenentlassungen aus demselben Rahmen der kollektiven Einstellung für die gleiche Dauer oder Tätigkeit ergebe.