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Gebot der Gleichbehandlung bei Massenentlassungen

Verfassungsbeschwerde wegen Benachteiligung bei Kündigung

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 08.Juni 2016, Aktenzeichen 1BvR 3634/13

Eine Kündigung verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Kündigung im Zusammenhang mit der Elternzeit vom Anwendungsbereich des Massenentlassungsschutzes ausgenommen wird.

Eine Beschäftigte einer Fluggesellschaft war beim Bodenpersonal tätig. Die Fluggesellschaft stellte sämtliche Deutschlandflüge ein. Sämtlichen Arbeitnehmern mit Arbeitsplatz in Deutschland wurde gekündigt. Die Kündigungen wurden ausgesprochen, nachdem die Anhörung des Betriebsrats stattfand und eine Massenentlassungsanzeige für alle Arbeitsverhältnisse erstattet wurde. Da für die Massenentlassungen das erforderliche Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat nicht ordnungsgemäß nach § 17 Absatz 2 KschG (Kündigungsschutzgesetz) durchgeführt wurde, erklärte das Bundesarbeitsgericht in mehreren Urteilen die Kündigungen für unwirksam.

Während die Kündigungen im Rahmen der Massenentlassungen ausgesprochen wurden, befand sich die Beschäftigte in Elternzeit. Nachdem die oberste Landesbehörde für Arbeitsschutz die Kündigung der Beschäftigten in Elternzeit für zulässig erklärte, wurde auch die Beschäftigte gekündigt.

Die Beschäftigte legte Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht ein. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Die Berufung vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) blieb erfolglos. Vom Bundesarbeitsgericht (BAG) wurde die Revision zurückgewiesen. Die Kündigung sei nicht anzeigepflichtig gewesen. Die Kündigung der Beschäftigten sei nicht im Zusammenhang mit den Kündigungen der anderen Beschäftigten erfolgt. Es handele sich nicht um eine Massenentlassung. Die 30-Tage-Frist nach §17 Absatz 1 Satz 1 KschG sei nicht anwendbar.

Die darauf erhobene Anhörungsrüge wurde vom BAG als unzulässig verworfen. Die Beschäftigte erhob nun Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie rügte die Verletzung der Artikel 2, 3, 6, 12, 20 und 103 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG).

Das BAG habe den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es seiner Aufklärungspflicht nicht nachkam und mit einer unzureichenden Tatsachengrundlage entschieden habe. Ein Schriftsatzrecht zur Frage über Voraussetzungen einer Massenentlassung wurde nicht eingeräumt.

Der Beschäftigten in Elternzeit wäre zeitgleich im Zusammenhang mit der Massenentlassung gekündigt worden, wenn ihre Kündigung nicht der Zustimmung der obersten Landesbehörde für Arbeitsschutz bedurft hätte. Wegen der Mängel im Konsultationsverfahren wäre auch ihre Kündigung unwirksam gewesen.

Elternzeit werde überwiegend von Frauen in Anspruch genommen. Deshalb liege ein Verstoß gegen die faktische Benachteiligung von Frauen entsprechend Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes vor. Es werde auch gegen Unionsrecht verstoßen.

Das Bundesverfassungsgericht befand, die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BAG sei begründet. Das Urteil des BAG verletze den allgemeinen Gleichheitssatz aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Der allgemeine Gleichheitssatz gebiete, alle Menschen vor dem Gesetz gleichzubehandeln. Es sei verboten, einem Personenkreis eine Begünstigung zu gewähren und einem anderen Personenkreis diese Begünstigung vorzuenthalten. Es verstoße gegen Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes, die Beschäftigte im Zusammenhang mit ihrer Elternzeit von der Anwendung des Massenentlassungsschutzes auszuschließen.

Nach Auffassung des BAG sei der Massenentlassungsschutz ausschließlich anhand des Zugangs der Kündigung zu bestimmen. Speziell bei Betriebsstilllegungen ergebe sich dadurch ein geringeres Schutzniveau für Personen, die nach dem Willen des Gesetzgebers als besonders schutzwürdig gelten und besonderen Kündigungsschutz genießen. Die oberste Landesbehörde erkläre regelmäßig eine Kündigung bei Betriebsstilllegung trotz Elternzeit für zulässig. Das Warten auf diese Erklärung führe aber dazu, dass die Kündigung außerhalb des für Massenentlassungen relevanten Zeitraumes von 30 Tagen erfolgen kann. Dadurch greife der Schutzmechanismus für Massenentlassungen nicht.

Der Kündigungsschutz bei Massenentlassung und Elternschutz unterscheide sich. Die frühzeitige Einbeziehung der Agentur für Arbeit und die Gestaltungsoptionen des Betriebsrats entfielen für Mitarbeiter, die wegen besonderer Schutznormen aus dem Verfahren der Massenentlassung herausfallen. Das Arbeitsverhältnis der Beschäftigten endete früher, da ihre Kündigung nicht dem regulären Massenentlassungsschutz unterlag, der hier dafür sorgte, dass die Kündigungen gegenüber den anderen Mitarbeitern wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften des Massenentlassungsschutzes unwirksam wurden.

Das Urteil des BAG verstoße gegen den Gleichheitssatz im Artikel 3 Absatz 3 Satz 1, der vorgibt, dass niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt werden darf. Das Gleichberechtigungsgebot nach Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes verlange ebenfalls, das Geschlecht dürfe nicht zur Rechtfertigung benachteiligender Ungleichbehandlungen herangezogen werden.

Eine unzulässige Anknüpfung an das Geschlecht könne auch dann vorliegen, wenn überwiegend Frauen nachteilig betroffen sind, selbst wenn diese nicht ausdrücklich erwähnt wurden.

Die Wertung des BAG, eine Kündigung unterliege nur innerhalb des Zugangs von 30 Tagen den Regeln für Massenentlassungen, bedeute eine Benachteiligung wegen des Geschlechts. Die Benachteiligung ergebe sich zunächst aus der Elternzeit. Frauen würden jedoch zu einem erheblich größeren Teil die Elternzeit in Anspruch nehmen. So hätten im Jahr 2014 von den erwerbstätigen Müttern mit dem jüngsten Kind unter drei Jahren 41,5% Elternzeit genommen, aber nur 2% der entsprechenden Väter.

Die faktische Schlechterstellung der Beschäftigten lasse sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Eine Benachteiligung von Personen mit besonderem Kündigungsschutz ließe sich bei Massenentlassungen vermeiden, indem deren Kündigungen so behandelt werden, wie Kündigungen die den Regeln des Massenentlassungsschutzes unterliegen. Für Beschäftigte mit Sonderkündigungsschutz gelte dann der 30-Tage-Zeitraum nach § 17 Absatz 1 Satz 1 KschG als gewahrt, wenn die Antragstellung bei der zuständigen Behörde innerhalb dieses Zeitraumes erfolgte.

Das Revisionsurteil des BAG wurde aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.