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Vorsätzliche Vertragsverletzung – Schadenersatz

Schadenersatzanspruch wegen vorsätzlicher Vertragsverletzung

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.06.2018, Aktenzeichen 8 AZR 141/16

Einem etwaigen Verfall der Ansprüche auf Schadenersatz wegen vorsätzlicher Vertragsverletzung steht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen, wenn der Schuldner den Eindruck erweckt hat, der Gläubiger könne darauf vertrauen, dass der Anspruch auch ohne Wahrung einer geltenden Ausschlussfrist erfüllt werde.

Die Leiterin der Buchhaltung war in einem Krankenhaus beschäftigt. Im Zeitraum von Juni 2009 bis Januar 2013 veranlasste sie eine Vielzahl von Überweisungen an Freunde und Bekannte in einer Höhe von insgesamt mehr als 3,9 Millionen Euro. Für diese Zahlungen gab es keinen Rechtsgrund.

Das Organisationssystem der Arbeitgeberin beruhte auf der Funktionstrennung und der Kontrolle nach dem 4-Augen-Prinzip. Die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Belege wurde in den Abteilungen geprüft. Buchung und Zahlung erfolgten durch die Buchhaltung. Vor der Überweisung wurden die Zahlungsläufe von der Verwaltungsleitung geprüft. Zusätzlich waren zwei elektronische Signaturen für einen Zahlungslauf erforderlich. Zwischen Debitoren- und Kreditorenbuchhaltern fand eine Funktionstrennung und Kontrolle statt. Einer Einzelperson sei es nicht möglich gewesen, dieses System zu umgehen.

Die Leiterin der Buchhaltung führte die Überweisungen mithilfe eines Mitarbeiters durch. Teilweise verwendete sie dessen Kennung, teilweise unterschrieb dieser. Zu den Quartalsabschlüssen nahm die Leiterin der Buchhaltung Scheinbuchungen vor, um das maßgebliche Konto wieder „passend“ zu machen. Zusätzlich nahm sie einer Buchhalterin die Kontrolle der Kontoauszüge ab und beauftragte diese mit anderen Aufgaben.

Im Mai 2013 machte die Arbeitgeberin erstmals schriftlich Schadenersatzansprüche geltend. Bereits im April 2013 räumte die Leiterin der Buchhaltung in einem handschriftlichen Schreiben ihre unrechtmäßigen Überweisungen ein und erklärte, das Geld wie versprochen schnellstmöglichst zurück zu überweisen.

Im Dezember 2013 reichte die Arbeitgeberin Klage auf Schadenersatz beim Arbeitsgericht ein. Die Arbeitgeberin argumentierte, ihre Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte seien nicht nach § 23 Absatz 1 AVR (Arbeitsvertragsrichtlinien) verfallen. Sie habe die Veruntreuungen erst am 18. April 2013 entdeckt und sei daraufhin in die Ermittlungen eingetreten. Vorher habe sie keine Erkenntnis von den Untreuehandlungen erlangen können, weil die Leiterin der Buchhandlung diese verschleiert habe. Anhand der Konten hätten keine Differenzen festgestellt werden können. Jährlich sei ein Zahlungsvolumen von mehr als 100 Millionen Euro mit einer sechs- bis siebenstelligen Buchungszahl bewegt worden. Die liquiden Mittel des Unternehmens seien aufgrund einer erfolgreichen wirtschaftlichen Sanierung trotz der Veruntreuung kontinuierlich gestiegen.

Es bestehe keine generelle anlasslose Pflicht zur Überwachung von Mitarbeitern. Zunächst dürften Arbeitgeberinnen ihren Arbeitnehmern grundsätzlich Vertrauen entgegenbringen. Die umfangreichen Sicherheitsinstrumente seien mit massiver krimineller Energie unterlaufen worden. Die Leiterin der Buchhaltung könne sich nicht auf einen Verfall der Schadenersatzansprüche berufen, da sie bereits außergerichtlich ihre Haftung einräumte und Regulierungsbereitschaft signalisierte. Damit habe sie die Schandenersatzforderung anerkannt.

Die Leiterin der Buchhaltung vertrat hingegen die Auffassung, die Schadenersatzansprüche seien nach § 23 Absatz 1 AVR verfallen. Die Arbeitgeberin habe es schuldhaft versäumt, die Leiterin der Buchhaltung zu kontrollieren. Aus dem täglich vorgelegten Finanzstatus habe die Arbeitgeberin unschwer den Abfluss von Beträgen in einer Höhe von insgesamt annähernd vier Millionen Euro bemerken können. Der stellvertretende Verwaltungsleiter habe erkennen können, dass mehr Geld ausgegeben wurde, als von ihm abgezeichnet.

Der Mitarbeiter eines externen Wirtschaftsprüfungsunternehmens habe im Rahmen der Erstellung des Jahresabschlusses für das Jahr 2010 darauf hingewiesen, dass erhöhte Forderungsabschreibungen aufgefallen seien. Daraufhin hätte sich die Arbeitgeberin einen Überblick über die Gründe für ihre Kontofehlbestände verschaffen müssen. Durch ihren Verwaltungsleiter habe die Arbeitgeberin bestätigt, dass die Forderungsabschreibungen unbedenklich seien. Die Schadenspositionen seien unproblematisch zu ermitteln gewesen, wie die kurze Zeitspanne zwischen der behaupteten Kenntniserlangung am 18. April 2013 und dem ersten Geltendmachungsschreiben vom 07. Mai 2013 belege. Zum Zeitpunkt ihrer vorgerichtlich erklärten Bereitschaft der Wiedergutmachung seien die Ansprüche der Arbeitgeberin bereits verfallen.

Das Arbeitsgericht gab der Klage der Arbeitgeberin statt. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Berufung zurück. Mit ihrer Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte die Leiterin der Buchhaltung weiterhin die Klageabweisung.

Das BAG wies die Revision als unbegründet ab. Die Arbeitgeberin habe Anspruch auf vollen Schadenersatz für mehr als 3,9 Millionen Euro, abzüglich eines bereits gezahlten Betrages von rund 110 000 Euro.

Einem etwaigen Verfall der Ansprüche stehe der Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) entgegen.

Die Leiterin der Buchhaltung habe vorsätzlich gegen ihre Arbeitspflichten verstoßen, indem sie Überweisungen an Freunde und Bekannte tätigte. Unstreitig sei der Arbeitgeberin ein Schaden in geltend gemachter Höhe entstanden.

Die Arbeitgeberin trage keine anspruchsvermindernde Mitschuld im Sinne von § 254 Absatz 1 BGB. Durch das Prinzip der Funktionstrennung und der 4-Augen-Kontrolle habe sie die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Die Arbeitgeberin müsse sich auch nicht vorwerfen lassen, nicht ausreichend kontrolliert zu haben. Vor den Untreuehandlungen habe sie keinen Anlass gehabt, an der Redlichkeit der Leiterin der Buchhaltung zu zweifeln.

Ein etwaiges fahrlässiges Handeln der Arbeitgeberin würde hinter das vorsätzliche Verschulden der Leiterin der Buchhaltung zurücktreten.

Dem Schadensersatzanspruch der Arbeitgeberin stehe die Ausschlussfrist nach § 23 Absatz 1 AVR nicht entgegen. Es komme nicht darauf an, ob die Arbeitgeberin ihre Ansprüche insgesamt innerhalb der sechsmonatigen Frist des § 23 Absatz 1 AVR ordnungsgemäß geltend gemacht habe. Die Arbeitgeberin könne einem etwaigen Verfall ihrer Ansprüche nach der in § 23 Absatz 1 AVR bestimmten Ausschlussklausel mit dem durchgreifenden Einwand der unzulässigen Rechtsausübung begegnen.

Wenn der Schuldner an objektiven Maßstäben gemessen den Eindruck erweckt hat, der Gläubiger könne darauf vertrauen, dass der Anspruch auch ohne Wahrung einer geltenden Ausschlussfrist erfüllt werde, stehe der Grundsatz von Treu und Glauben dem Verfall von Ansprüchen aufgrund einer Ausschlussklausel entgegen.

Der Einwand, eine Frist für die Geltendmachung eines Anspruchs sei nicht gewahrt, greife generell in solchen Fällen nicht durch, in denen sich eine Partei damit in Widerspruch zu ihrem eigenen vorausgegangenen Verhalten setze und für die andere Partei ein schützenswerter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn sonstige besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen.

Die Arbeitgeberin könne der Ausschlussfrist erfolgreich mit dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung begegnen. Die Leiterin der Buchhaltung verhalte sich in mehrfacher Hinsicht treuewidrig, wenn sie den Verfall der Schadenersatzansprüche einwende.

Sie habe bei der Arbeitgeberin bewusst bestehende Schutzmechanismen ausgeschaltet, indem sie sich eine zweite elektronische Signatur verschaffte, und eine weitere Kontrolle verhinderte, indem sie der Buchhalterin die Überprüfung der Kontoauszüge und der damit verbundenen Buchungen abnahm. Dadurch habe sie eine zeitnahe Aufdeckung ihrer mit hoher krimineller Energie vorsätzlich begangenen Vertragsverstöße verhindert und ein früheres Einschreiten sowie Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen der Arbeitgeberin verhindert.

Nach Aufdeckung der Straftaten habe die Leiterin der Buchhaltung mehrfach ihre Verantwortlichkeit eingeräumt und gezielt den Eindruck erweckt, sie wolle alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um den Schaden auszugleichen. Dieses Verhalten sei jedenfalls geeignet, bei der Arbeitgeberin die Annahme zu begründen, die Leiterin der Buchhaltung werde die ihr gegenüber bestehenden Schadensersatzansprüche nicht in Abrede stellen und, ohne gesonderte Geltendmachung, alles tun, um diese zu erfüllen, zumindest aber bemüht sein, eine vergleichsweise Regelung zu finden. Danach habe die Leiterin der Buchhaltung den Eindruck erweckt, die Arbeitgeberin könne darauf vertrauen, dass ihr Schadensersatzanspruch auch ohne Wahrung einer geltenden Ausschlussfrist erfüllt werde.

Die Schadenersatzansprüche seien nicht vor dem 18. April 2013 fällig geworden. Es sei nicht behauptet worden, dass die Arbeitgeberin vor diesem Zeitpunkt eine positive Kenntnis der Vertragsverletzungen gehabt habe. Es könne auch keine vorherige fahrlässige Unkenntnis der Arbeitgeberin angenommen werden.

Der Vortrag der Leiterin der Buchhaltung, die Arbeitgeberin hätte etwa aus dem täglichen Finanzstatus unschwer den Abfluss von 4 Millionen Euro bemerken können, lasse nicht den Schluss zu, dass die Arbeitgeberin bei Beachtung der entsprechenden Sorgfalt vor dem 18. April 2013 Kenntnis von den Schadensereignissen hätte erlangen können.

Die Arbeitgeberin musste nicht damit rechnen, dass die Leiterin der Buchhaltung ihre Vertragspflichten verletzen würde. Sie hatte Sicherheitsvorkehrungen geschaffen, die ausschlossen, dass ein Mitarbeiter alleine eine Schädigung hervorrufen kann. Diese Sicherheitsvorkehrungen habe die Leiterin der Buchhaltung mit hoher krimineller Energie außer Kraft gesetzt. Vor diesem Hintergrund komme es auch nicht darauf an, dass der Sachbearbeiter einer externen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft für das Jahr 2010 erhöhte Forderungsabschreibungen festgestellt habe.