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Recht auf Unerreichbarkeit in der Freizeit

Recht auf Nicht-Erreichbarkeit in der Freizeit

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.09.2022, Aktenzeichen 1 SA 39 Öd/22

Ein Mitarbeiter ist nicht verpflichtet, sich in seiner Freizeit zu erkundigen, ob sein Dienstplan geändert worden ist. Er ist auch nicht verpflichtet, eine Mitteilung der Arbeitgeberin, etwa per Telefon, entgegenzunehmen oder eine SMS zu lesen.

Ein Notfallsanitäter war bei einem Rettungsdienst in Vollzeit beschäftigt.

An einem arbeitsfreien Tag des Notfallsanitäters teilte die Arbeitgeberin ihn für den nächsten Tag zur Tagschicht mit Dienstbeginn um 6.00 Uhr in einer Rettungswache ein. Nach einem erfolglosen Anruf der Arbeitgeberin beim Notfallsanitäter sandte sie ihm eine SMS.

Am nächsten Tag bot der Notfallsanitäter um 07:30 Uhr telefonisch seine Arbeitsleistung an. Die Arbeitgeberin setzte ihn an diesem Tag nicht ein, da sie bereits einen anderen Mitarbeiter herangezogen hatte, erteilte ihm eine Mahnung, und zog ihm für diesen Tag 11 Stunden für unentschuldigtes Fehlen ab.

Einige Monate später an einem weiteren arbeitsfreien Tag des Notfallsanitäters, konkretisierte die Arbeitgeberin den Arbeitsbeginn für den am folgenden Tag aufzunehmenden Dienst auf 6:30 Uhr. Nach wiederum erfolglosem Anruf sandte die Arbeitgeberin wiederum eine SMS sowie eine E-Mail. Am folgenden Tag um 7:30 zeigte der Notfallsanitäter telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme an. Den ihm zugeteilten Dienst an einem entfernten Standort nahm er dort um 8:26 Uhr auf. Die Arbeitgeberin wertete die Zeit von 6.30 Uhr bis 8.26 Uhr als unentschuldigtes Fehlen, erteilte dem Notfallsanitäter eine Abmahnung wegen dieses Sachverhalts und zog ihm 1,93 Stunden vom Arbeitszeitkonto ab.

Mit seiner Klage vor dem Arbeitsgericht wehrte sich der Notfallsanitäter gegen den Abzug von Stunden vom Arbeitszeitkonto und begehrte die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte.

Er führte aus, die Konkretisierung der Dienste sei erst nach Ablauf der dafür vorgesehenen Frist erfolgt. Nach Ablauf der Frist sei ein Springerdienst stets freiwillig. Die Konkretisierung der Springerdienste unterliege auch der Mitbestimmung durch den Betriebsrat.

Er sei nicht verpflichtet, sich während seiner Freizeit darüber zu informieren, wann er zu arbeiten habe. Die Arbeitgeberin stelle auch unstreitig die entsprechenden technischen Möglichkeiten wie ein Diensthandy oder einen PC nicht zur Verfügung. Sie umgehe mit ihrer Vorgehensweise die Anordnung von Rufbereitschaft um Kosten zu sparen. Die kurzfristige Anordnung verstoße auch gegen § 12 Absatz 3 TzBfG (Teilzeitbefristungsgesetz), zumindest aber gegen billiges Ermessen. Sein Handy habe er lautlos gestellt, weil er sich um seine Kinder habe kümmern müssen.

Die Arbeitgeberin argumentierte, der Notfallsanitäter sei verpflichtet, sich über seine Dienstzeiten zu informieren. Die Zeiten, in denen er sich informiere, seien auch nicht als Arbeitszeit zu bewerten. Die Informationspflicht bestehe als arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Der Notfallsanitäter habe das Telefon nicht abgenommen und auf die SMS und die E-Mail nicht reagiert. Er habe daher unentschuldigt gefehlt.

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Der Notfallsanitäter legte Berufung beim Landesarbeitsgericht ein und führte aus, das Arbeitsgericht setze sich nicht mit seinem Recht auf Nichterreichbarkeit in der Freizeit auseinander. Soweit dieses auf andere Pflichten außerhalb der Arbeitszeit, etwa die Pflicht zur Anzeige der Arbeitsunfähigkeit hinweise, seien diese nicht mit der Verpflichtung, sich über seine Dienstzeiten zu informieren, vergleichbar. Die kurzfristige Veränderung der Arbeitszeit liege im alleinigen Interesse der Arbeitgeberin. Außerdem gebe es unstreitig keine Vereinbarung darüber, dass er seine eigenen Geräte (Handy, PC) für die Arbeitgeberin einsetzen müsse.

Die Konkretisierung der Springerdienste an den beiden Tagen sei von ihrem Direktionsrecht gedeckt, erwiderte die Arbeitgeberin. Dem Notfallsanitäter stehe es frei, wann und wie er sich die Informationen über seine konkrete Arbeitszeit verschaffe.

Das Landesarbeitsgericht entschied, dem Notfallsanitäter steht ein Anspruch auf Gutschrift für 11 Stunden auf sein Arbeitszeitkontos für den 08.04.2021 zu. Der entsprechende Anspruch beruht auf den §§ 611 a Absatz 2, 615 Satz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch).

Die Arbeitgeberin befand sich am 08.04.2021 mit der Annahme der Dienste des Notfallsanitäters in Verzug. Der Notfallsanitäter hat an jenem Tag um 07:30 Uhr seine Arbeitsleistung telefonisch bei dem zuständigen Arbeitszeitgestalter der Arbeitgeberin angeboten. Mit diesem Angebot hat der Notfallsanitäter die von ihm geschuldete Arbeitsleistung zur rechten Zeit am rechten Ort erbracht.

Die entsprechende Dienstplanänderung am vorherigen Tag ist dem Notfallsanitäter nicht zugegangen und ist ihm gegenüber deswegen auch nicht wirksam geworden.

Eine empfangsbedürftige Willenserklärung wird gemäß § 130 Absatz 1 Satz 1 BGB mit ihrem Zugang wirksam. Zugegangen ist eine Willenserklärung, wenn sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören auch die von ihm zur Entgegennahme von Erklärungen bereitgehaltenen Einrichtungen, wie Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder Anrufbeantworter. Vollendet ist der Zugang erst, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist.

Die Arbeitgeberin hat nicht nachweisen können, dass dem Notfallsanitäter die Mitteilung über die Änderung des Dienstplans zugegangen ist.

Mit der Kenntnisnahme des Inhalts der SMS durfte die Arbeitgeberin nicht vor 7:30 Uhr des folgenden Tages rechnen. Der Notfallsanitäter ist nicht verpflichtet, während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen.

Beim Lesen einer SMS, mit der die Arbeitgeberin ihr Direktionsrecht im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung konkretisiert, handelt es sich um Arbeitszeit. Der Notfallsanitäter erbringt mit dem Lesen eine Arbeitsleistung. Die Arbeitgeberin verspricht die Vergütung aller Dienste, die sie dem Arbeitnehmer aufgrund ihres arbeitsvertraglich vermittelten Weisungsrechts abverlangt. „Arbeit“ im Sinne dieser Bestimmungen ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient.

In seiner Freizeit steht dem Notfallsanitäter dieses Recht auf Unerreichbarkeit zu. Freizeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer in diesem Zeitraum den Arbeitgebern nicht zur Verfügung stehen müssen und selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie diese Freizeit verbringen. In dieser Zeit müssen sie gerade nicht fremdnützig tätig sein und sind nicht Bestandteil einer fremdbestimmten arbeitsrechtlichen Organisationseinheit und fungieren nicht als Arbeitskraft. Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht.

Der Einschätzung, dass das Lesen der SMS zur Arbeitszeit des Notfallsanitäters zu rechnen ist, steht der zeitlich minimale Aufwand, der mit dem Aufrufen und Lesen einer SMS verbunden ist, nicht entgegen. Arbeit wird nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich ganz geringfügigem Umfang anfällt. Das Recht auf Nichterreichbarkeit dient neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes des Arbeitnehmers durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten auch dem Persönlichkeitsschutz.

Der Notfallsanitäter hat sich auch nicht treuwidrig verhalten, indem er auf die Telefonate nicht reagiert, die SMS nicht zur Kenntnis genommen und auch nicht in den Dienstplan im Internet Einsicht genommen hat, um sich über seinen Dienstbeginn zu informieren.

Der Notfallsanitäter verhält sich nicht treuwidrig, wenn er darauf besteht, in seiner Freizeit keiner dienstlichen Tätigkeit nachzugehen. Er lehnt im Sinne der oben dargestellten Rechtslage die Entgegennahme der Weisung durch die Arbeitgeberin nicht grundlos ab. Vielmehr verhält sich die Arbeitgeberin widersprüchlich, wenn sie einerseits dem Notfallsanitäter Freizeit gewährt und andererseits von ihm verlangt, Arbeitsleistungen zu erbringen. Die von der Arbeitgeberin angenommene Nebenpflicht, sich in seiner Freizeit nach seinen Dienstzeiten zu erkundigen, besteht nicht.

Eine andere Arbeitsleistung ist ihm für jenen Tag nicht zugewiesen worden. Damit befand sich die Arbeitgeberin mit der Annahme der Dienste des Notfallsanitäters auch nach 7:30 Uhr in Verzug.

Dem Notfallsanitäter steht auch für den 15.09.2021 die nunmehr noch geltend gemachte Gutschrift für 0,75 Stunden zu. Tatsächlich meint der Notfallsanitäter, wie er dann auf Befragen im Berufungstermin ausgeführt hat, die Zeit für die Fahrt zum Arbeitsort müsse ihm gutgeschrieben werden, weil ihn die Arbeitgeberin erst um 07:30 Uhr über die Änderung des Dienstortes informiert habe, sodass er seine Arbeitsleistung nicht pünktlich habe anbieten können. Damit macht der Notfallsanitäter der Sache nach einen Verzugsschadensersatzanspruch geltend, nicht aber einen Anspruch aus Annahmeverzug.

Die Arbeitgeberin hat eine Leistungspflicht aus dem Arbeitsverhältnis verzögert erfüllt im Sinne der §§ 280 Absatz 1 und 2 BGB. Sie ist nach § 241 Absatz 2 BGB zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Notfallsanitäters verpflichtet. Zu diesen Interessen gehört es, dass dem Notfallsanitäter der Beginn seiner Dienstzeit so rechtzeitig mitgeteilt wird, dass er den Arbeitsort noch pünktlich aufsuchen kann, um dort seine Arbeitsleistung aufzunehmen und damit „sein Geld zu verdienen“. Diese Leistungspflicht verletzt die Arbeitgeberin, indem sie ihm erst um 07:30 Uhr mitteilt, dass er nunmehr unverzüglich am entfernten Standort seinen Dienst antreten muss.

Der Arbeitgeberin war bekannt, dass der Notfallsanitäter nicht bereit ist, in seiner Freizeit Informationen über seine Dienstplangestaltung entgegenzunehmen. Zum hier streitigen Zeitpunkt im September hatte der Notfallsanitäter wegen dieses Sachverhalts bereits eine entsprechende Klage vor dem Arbeitsgericht erhoben. Die Arbeitgeberin hätte daher die Arbeitszeitkonkretisierung gegenüber dem Notfallsanitäter früher vornehmen müssen, was ihr für den 15.09. auch möglich gewesen wäre, da der zugrundeliegende Ausfall eines anderen Mitarbeiters bei der Arbeitgeberin bereits am 12.09. um 20:14 Uhr erfolgte. Die Arbeitgeberin hätte daher jedenfalls am 13.09. noch den Dienstplan ändern können. Die entsprechende Mitteilung hätte der Notfallsanitäter auch zur Kenntnis nehmen können, da er an diesem Tag noch Dienst hatte.

Im Übrigen hat die Arbeitgeberin vorgetragen, sie besetze die konkreten Springerdienste möglichst spät, um noch eine entsprechende Personalreserve vorhalten zu können. Damit übernimmt sie aber selbst das Risiko, einen Mitarbeiter nicht erreichen zu können.

Der wegen der verspäteten Mitteilung beim Notfallsanitäter eingetretene Schaden ist der Verlust der Gutschrift für die objektiv für die Fahrt zur Dienststelle aufzuwendende Zeit. Die beträgt nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien im Berufungstermin jedenfalls die hier vom Notfallsanitäter verlangten 45 Minuten, die demnach auf seinem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben sind.

Die Arbeitnehmerin muss die Abmahnung vom 30.09.2021 aus der Personalakte des Notfallsanitäters entfernen. Diese verletzt das Persönlichkeitsrecht des Notfallsanitäters und ist damit rechtswidrig.

Die Abmahnung enthält eine unzutreffende rechtliche Bewertung des Verhaltens des Notfallsanitäters.

Dem Notfallsanitäter wird vorgeworfen, er verletze seine arbeitsvertraglichen Nebenpflichten, wenn er nicht von sich aus in den Dienstplan sehe und prüfe, wann und wo er für den eingeteilten Dienst am Folgetag zu erscheinen habe. Dabei geht die Arbeitgeberin in der Abmahnung davon aus, dass diese Pflicht gerade auch in der Freizeit des Notfallsanitäters bestehe. Diese rechtliche Bewertung ist unzutreffend.

Eine Revision zu dieser Entscheidung wurde zugelassen.