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Erneutes betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM)

Betriebliches Wiedereingliederungsmanagement

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022, Aktenzeichen 17 Sa 57/21

Der Arbeitgeber hat grundsätzlich ein neuerliches betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.

Eine Versicherungssachbearbeiterin war in Teilzeit mit 20 Stunden pro Woche beschäftigt. Sie war einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Als Versicherungssachbearbeiterin übte sie ihre Tätigkeiten am PC und telefonierend überwiegend im Sitzen aus. Ihr Arbeitsplatz befand sich in einem Gruppenarbeitsraum mit mehreren Schreibtischen, PC und Telefonen. Im Rahmen einer flexiblen Arbeitszeit konnten die Mitarbeiter weitgehend selbstständig über Beginn und Ende ihrer täglichen Arbeitszeit sowie über die Lage der Pausen entscheiden.

Von Dezember 2014 bis Dezember 2020 war die Versicherungssachbearbeiterin ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Im Mai 2019 forderte die Arbeitgeberin sie auf, sich beim Betriebsarzt vorzustellen. Der Betriebsarzt führte keine eigenen Untersuchungen durch. Stattdessen forderte er die Vorlage sämtlicher Arztberichte und Befunde. Den Vorschlag, Kontakt mit der behandelnden Ärztin aufzunehmen, lehnte er ab.

Nach einem Präventionsgespräch, an dem auch Mitarbeiter des Integrationsamtes teilnahmen, lud die Arbeitgeberin zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) ein. Die Versicherungssachbearbeiterin erklärte ihre Bereitschaft zum bEM, unterzeichnete aber nicht die in diesem Zusammenhang übermittelte Datenschutzrechtliche Einwilligung. Sie stellte dazu Rückfragen und wählte eigene Formulierungen.

In einem Gespräch Ende Juni 2019 wies die Arbeitgeberin darauf hin, dass ohne Unterschrift der von der Arbeitgeberin formulierten Datenschutzerklärung kein bEM stattfinden kann. Diesen Hinweis wiederholte die Arbeitgeberin in der Folgezeit mehrfach.

Zwischen dem November 2018 und Dezember 2019 stellte die Versicherungssachbearbeiterin sechs Wiedereingliederungsanträge. Hiervon kam nur eine Wiedereingliederung zustande, die vom 17. September 2019 bis zum 29. Oktober 2019 dauerte. In dieser Zeit wurde der Versicherungssachbearbeiterin ein höhenverstellbarer Schreibtisch, nicht aber ein Einzelbüro oder ein sogenanntes Active Noise Cancelling Headset zur Verfügung gestellt.

Nach der Zustimmung des Integrationsamtes im Mai 2020 zur beabsichtigten ordentlichen, Kündigung, kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum Jahresende 2020.

Die Versicherungssachbearbeiterin machte beim Arbeitsgericht geltend, die Kündigung habe das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst, da die Kündigung sozial nicht gerechtfertigt ist. Sie beantragte, die Arbeitgeberin zu verurteilen, sie zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen.

Die Arbeitgeberin argumentierte, aus krankheitsbedingten Gründen sei die Kündigung gerechtfertigt. Basierend auf der langanhaltenden Krankheit in Verbindung mit der Stellungnahme der behandelnden Ärztin sei die negative Prognose begründet, dass es sich um eine dauerhafte gesundheitliche Einschränkung handelt. Es sei der Arbeitgeberin nicht zuzumuten an dem Arbeitsverhältnis festzuhalten, da es seit Jahren nur noch eine sinnentleerte Hülle darstelle.

Die Zustimmungsverweigerung zur datenschutzrechtlichen Einwilligung sei so zu bewerten, als hätte die Versicherungssachbearbeiterin dem bEM insgesamt nicht zugestimmt.

Jeder neue Versuch eines bEM wäre ferner voraussichtlich wieder an demselben Problem gescheitert, nachdem es keine Anzeichen dafür gegeben habe, dass die Versicherungssachbearbeiterin ihre Position im Hinblick auf den Datenschutz geändert habe.

Ein milderes Mittel gegenüber der Beendigungskündigung sei nicht ersichtlich. Insbesondere könne auch kein leidensgerechter Arbeitsplatz zugewiesen werden.

Alle Tätigkeiten, welche bei der Arbeitgeberin vorhanden seien und für welche die Versicherungssachbearbeiterin qualifiziert sei, oder mit zumutbarem Aufwand qualifiziert werden könne, würden ähnliche körperliche und geistige Anforderungen aufweisen, so dass angenommen werden müsse, dass die Arbeitsunfähigkeit auch bei einer Versetzung in eine andere Abteilung fortbestehen würde. Die Versicherungssachbearbeiterin habe auch im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt keine konkret umsetzbaren Schritte genannt, welche in der Summe einen leidensgerechten Arbeitsplatz hätten ergeben können.

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Die Kündigung sei wirksam, da eine negative Prognose vorliegt. Es sei davon auszugehen, dass die Versicherungssachbearbeiterin weiter unabsehbar lange fehle. Die erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen infolge des sinnentleerten Austauschverhältnisses, bezogen auf den bisherigen Arbeitsplatz der Versicherungssachbearbeiterin, sei indiziert.

Die Versicherungssachbearbeiterin hätte konkret erwidern und insbesondere darlegen müssen, wie sie sich eine Änderung des bisherigen Arbeitsplatzes oder eine anderweitige Beschäftigung vorgestellt habe, die sie trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung hätte ausüben können. Mangels jeglichen Vortrags der Versicherungssachbearbeiterin hierzu sei davon auszugehen, dass für die Arbeitgeberin keine Möglichkeit einer leidensgerechten Weiterbeschäftigung der Versicherungssachbearbeiterin bestanden habe.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legte die Versicherungssachbearbeiterin Berufung beim Landesarbeitsgericht ein. Eine negative Zukunftsprognose habe ebenso wenig vorgelegen wie eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Darüber hinaus hätten mildere Mittel zur Verfügung gestanden.

Von einer dauernden Leistungsunfähigkeit sei nicht auszugehen. Bereits aus der Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 4. März 2020 ergebe sich, dass mit einer Stabilisierung des Gesundheitszustands der Versicherungssachbearbeiterin zu rechnen gewesen sei.

Die Versicherungssachbearbeiterin habe das am 24. Mai 2019 angebotene bEM nicht abgelehnt, sondern ein solches sei von der Arbeitgeberin pflichtwidrig unterlassen worden. Die Einschränkung der Einwilligung in den Umfang der Datenverarbeitung sei kein Hinderungsgrund für die Durchführung eines bEM.

Zudem habe aufgrund der fortbestehenden Erkrankung der Versicherungssachbearbeiterin vor Ausspruch einer Kündigung ein weiteres bEM angeboten werden müssen.

Es habe mögliche Maßnahmen zur leidensgerechten Anpassung des Arbeitsplatzes der Versicherungssachbearbeiterin gegeben. Durch einen Einsatz in einem Einzelbüro oder alternativ die Bereitstellung eines sog. Active Noise Cancelling Headsets hätte z.B. die Konzentrationsfähigkeit erheblich gesteigert, sowie die Belastung und der Stress durch Tinnitus gesenkt werden können. Die Gewährung eines längeren Einarbeitungszeitraums zum Erlernen der veränderten Technik und neuen Aufgaben der Sachbearbeitung ohne Leistungsdruck hätte es ihr ermöglicht, sich überhaupt die erforderlichen Wissengrundlagen zur ordnungsgemäßen Erledigung ihrer Aufgaben neu anzueignen.

Das Landesarbeitsgericht entschied, die streitgegenständliche Kündigung der Arbeitgeberin hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet. Der Versicherungssachbearbeiterin steht deshalb der geltend gemachte Weiterbeschäftigungsanspruch zu.

Die Kündigung erweist sich als unverhältnismäßig. Die Arbeitgeberin hätte vor Ausspruch der Kündigung nochmals den Versuch eines bEM unternehmen müssen. Es kann nicht festgestellt werden, dass das bEM nicht dazu hätte beitragen können, Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Offenbleiben konnte dabei, ob der Versicherungssachbearbeiterin eine negative Gesundheitsprognose zu stellen ist und ob die zu prognostizierenden arbeitsunfähigkeitsbedingten Fehlzeiten zu erheblichen betrieblichen Auswirkungen führen.

Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht im Sinne von § 1 Absatz 2 Satz 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt.

Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin auf einem anderen, ihrem Gesundheitszustand entsprechenden, Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung der Arbeitgeberin ergeben, es der Arbeitnehmerin vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern.

Die Arbeitgeberin war jedoch gemäß § 167 Absatz 2 Satz 1 SGB IX (Sozialgesetzbuch) zur Durchführung eines bEM verpflichtet. Ist sie dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist sie darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

Die Arbeitgeberin wäre dann verpflichtet gewesen, wegen erneuten Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen noch vor Einleitung des Verfahrens vor dem Integrationsamt ein erneutes bEM einzuleiten.

Die Arbeitgeberin hat grundsätzlich ein neuerliches bEM durchzuführen, wenn die Arbeitnehmerin innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist, denn durch eine geeignete Gesundheitsprävention ist das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern.

War der Suchprozess in einem vorherigen bEM zunächst abgeschlossen, entsteht eine erneute Verpflichtung der Arbeitgeberin, ein bEM zu initiieren, grundsätzlich auch dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen bEM hinaus ununterbrochen weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat. Selbst bei einer ununterbrochen andauernden Arbeitsunfähigkeit können sich, nachdem sie weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat, neue Erkenntnismöglichkeiten für zielführende Präventionsmaßnahmen ergeben.

Hat die Arbeitgeberin ihrer Initiativlast zur Durchführung eines bEM genügt, die Arbeitnehmerin einem solchen jedoch zunächst ihre Zustimmung nicht erteilt, ist die Arbeitgeberin dennoch grundsätzlich gehalten, den weiteren Versuch eines bEM zu unternehmen, wenn die Arbeitnehmerin innerhalb eines Jahres, nachdem sie die Durchführung eines bEM abgelehnt hat, erneut mehr als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig gewesen ist, selbst wenn seit der nicht erteilten Zustimmung nicht bereits wieder ein Jahr vergangen ist.

Eine erneute Einladung bzw. eine konkrete Nachfrage der Arbeitgeberin, ob sich etwas an der Bereitschaft der Arbeitnehmerin zur Durchführung eines bEM geändert hat, stellt entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin insbesondere auch keinen unzumutbaren bürokratischen Aufwand dar.

Mangels Ablehnung eines entsprechenden bEM-Angebots durch die Versicherungssachbearbeiterin fehlen im vorliegenden Fall jedoch hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme der Arbeitgeberin, ein solches Angebot wäre nutzlos gewesen, weil die Versicherungssachbearbeiterin es abgelehnt hätte. Die in der Vergangenheit ablehnende Haltung der Arbeitnehmerin kann sich allein durch die zusätzlich aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten geändert haben.

Die Versicherungssachbearbeiterin hatte bereits in der Vergangenheit nicht generell jede Zusammenarbeit mit der Arbeitgeberin im Hinblick auf den Versuch von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit abgelehnt, sondern war z.B. im Hinblick auf Wiedereingliederungsversuche wiederholt aktiv an die Arbeitgeberin herangetreten, hatte sich für eine Untersuchung beim Betriebsarzt vorgestellt und an einem Präventionsgespräch mit dem Integrationsamt teilgenommen.

Da die Arbeitgeberin die primäre Darlegungslast für die Nutzlosigkeit eines bEM trägt, muss sie von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihr zumutbarer Maßnahmen vortragen.

Der Arbeitgeberin hat von sich aus alle vernünftigerweise in Betracht kommenden, und von der Arbeitnehmerin ggf. bereits außergerichtlich genannten Alternativen, zu würdigen und, soweit ihr aufgrund ihres Kenntnisstands möglich, im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen weder eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes, noch die Beschäftigung auf einem anderen, ihrem Gesundheitszustand entsprechenden, Arbeitsplatz, noch eine Maßnahme des Rehabilitationsträgers in Betracht kommt. Dabei ist eine Abstufung ihrer Darlegungslast vorzunehmen, falls ihr die Krankheitsursachen unbekannt sind.

Es kann nicht festgestellt werden, dass das bEM nicht dazu hätte beitragen können, Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. In einem bEM hätten zudem weitere Maßnahmen geprüft und ggf. erprobt werden können. Hier erscheint z.B. ein Einsatz nicht im Großraumbüro, sondern in einem Einzelzimmer, und/oder die Verwendung eines Active Noise Cancelling Headsets denkbar.

Im Hinblick auf eine ggf. dann nur noch verbleibende Leistungsminderung ist deshalb auch nicht feststellbar, dass diese nicht durch gezielte Schulungsmaßnahmen, die in ihrer Ausgestaltung auf die Einschränkungen der Versicherungssachbearbeiterin Rücksicht nehmen, ggf. unter Inanspruchnahme von Leistungen der Rehabilitationsträger soweit hätte beseitigt werden können, dass eine ausreichende Leistung der Versicherungssachbearbeiterin hätte erreicht werden können.

Auch der Integrationsfachdienst hat zudem angenommen, dass langfristig im Rahmen einer medizinischen Reha eine berufliche Perspektive erarbeitet werden könne, bei der der Zusammenhang zwischen chronischer Schmerzerkrankung, depressiver Symptomatik und Arbeitskonflikt betrachtet werde, und dass für die zukünftige Wiederaufnahme von Arbeit entscheidend sei, dass die Versicherungssachbearbeiterin in Form einer rehabilitativen Maßnahme bei einer Leistungs- und Belastungserprobung durch den Maßnahmeträger eng begleitet werde. Danach erscheint nicht ausgeschlossen, dass in einem bEM eine Möglichkeit zur Umsetzung einer solchen Maßnahme hätte gefunden werden können.

Der Verweisung der Arbeitnehmerin auf eine Maßnahme der Rehabilitation steht als denkbares Ergebnis eines bEM im Übrigen nicht entgegen, dass die Durchführung solcher Maßnahmen von deren Mitwirkung abhängt und nicht in der alleinigen Macht der Arbeitgeberin steht. Ggf. muss die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin eine angemessene Frist zur Inanspruchnahme der Leistung setzen. Eine Kündigung kann sie erst dann wirksam erklären, wenn die Frist trotz Kündigungsandrohung ergebnislos verstrichen ist. Die Arbeitgeberin hat nicht dargelegt, dass sie der Versicherungssachbearbeiterin einen solchen Vorschlag unter Fristsetzung mit Kündigungsandrohung unterbreitete.

Da das Arbeitsverhältnis nicht beendet ist, steht der Versicherungssachbearbeiterin der erhobene Weiterbeschäftigungsanspruch zu.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass es der Versicherungssachbearbeiterin auf unabsehbare Zeit unmöglich sein wird, die geschuldeten Dienste zu erbringen, so dass der Weiterbeschäftigungsantrag deshalb abzuweisen wäre.

Eine Revision zu dieser Entscheidung wurde zugelassen.