LAG Köln (7. Kammer), Urteil vom 11.04.2024, Aktenzeichen 7 Sa 504/23
Amtlicher Leitsatz:
Bei krankheitsbedingter dauernder Leistungsunfähigkeit ist eine negative Prognose hinsichtlich der künftigen Entwicklung des Gesundheitszustands indiziert. Der dauernden Leistungsunfähigkeit steht die völlige Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit gleich. Eine solche Ungewissheit besteht, wenn in absehbarer Zeit nicht mit einer positiven Entwicklung gerechnet werden kann. Als absehbar ist in diesem Zusammenhang ein Zeitraum von bis zu 24 Monaten anzusehen. Dabei stellt eine lang andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in der unmittelbaren Vergangenheit ein gewisses Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit in der Zukunft dar. Es existieren keine starren Grenzen, ab welchem Zeitpunkt eine Krankheit als langanhaltend gelten hat. Jedenfalls dann wenn der Sechswochenzeitraum des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG noch nicht abgelaufen ist, kann allein die bisherige Dauer einer Erkrankung nicht als Indiz für eine dauerhafte oder langandauernde Arbeitsunfähigkeit dienen.
Tenor:
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 24.08.2023 – Aktenzeichen 5 Ca 649/23 – wird zurückgewiesen.
II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Sachverhalt:
Der 1954 geborene Kläger ist seit dem 01.09.2021 als Fahrer im Krankenfahrdienst bei der Beklagten beschäftigt, die regelmäßig mehr als zehn Vollzeitbeschäftigte hat, und erhält ein monatliches Bruttogehalt von 1.872,00 EUR.
Am 26.01.2023 ereignete sich ein Vorfall, bei dem der Kläger den Rollstuhl einer Patientin während eines Krankentransports nicht ordnungsgemäß befestigte. In der Folge kam es zu einem Unfall, wodurch die Beklagte Schadensersatzansprüchen aufgrund der Behandlungskosten ausgesetzt war.
Am 29.03.2023 erlitt der Kläger einen Bandscheibenvorfall. Streit besteht zwischen den Parteien darüber, ob dies im Rahmen eines Arbeitsunfalls geschah. Ab dem 01.04.2023 war der Kläger aufgrund eines Bandscheibenvorfalls mit beidseitiger Lumboischialgie, starken Rückenschmerzen und erheblichen Mobilitätseinschränkungen sowie einer Nervenverletzung der Wirbelsäule arbeitsunfähig. Dies teilte er der Beklagten in einem Schreiben vom selben Tag mit (Bl. 99 der erstinstanzlichen Akte).
In einem Schreiben vom 06.05.2023, das dem Kläger am 09.05.2023 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 05.06.2023.
Mit der Kündigungsschutzklage, die am 15.05.2023 beim Arbeitsgericht einging und der Beklagten am 19.05.2023 zugestellt wurde, wandte sich der Kläger gegen die Wirksamkeit der Kündigung.
Der Kläger hat nach Rücknahme eines Antrags auf Weiterbeschäftigung zuletzt beantragt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 06.05.2023, zugegangen am 09.05.2023, nicht beendet wurde, sondern weiterhin besteht.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, dass die Kündigung aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt sei. Der Kläger sei unter Berücksichtigung der Schwere seiner Krankheitssymptome körperlich nicht mehr in der Lage, die vertraglich vereinbarte Tätigkeit als Fahrer im Krankenfahrdienst zukünftig auszuführen. Die körperliche Ungeeignetheit des Klägers habe sich bereits bei dem Vorfall am 26.01.2023 gezeigt, als er zufolge körperlicher Anstrengung den Rollstuhl einer Patientin nicht ordnungsgemäß befestigte. Die Beklagte sei gezwungen, den Arbeitsplatz des Klägers anderweitig zu besetzen. Es komme immer wieder zu betrieblichen Schwierigkeiten, wenn ein Fahrer ausfalle, sodass die Beklagte gezwungen sei, Über- und Mehrarbeit bei anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anzuordnen, was zu unzumutbaren Belastungen führe. Zudem seien Aushilfskräfte auf dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar. Die Beklagte habe alle Versetzungsmöglichkeiten geprüft und keinen geeigneten Arbeitsplatz für den Kläger finden können.
Mit Urteil vom 24.08.2023 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Kündigung sei nicht als personenbedingte Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 1. Alt. KSchG gerechtfertigt. Zum Zeitpunkt der Kündigung fehle es an einer negativen Gesundheitsprognose. Die Beklagte habe keine objektiven Tatsachen vorgetragen, die darauf hindeuten, dass der Kläger dauerhaft nicht in der Lage sei, die geschuldete Leistung zu erbringen. Die Erkrankungen des Klägers seien solche, die in der Regel bei entsprechender Behandlung geheilt werden könnten. Allein das Alter des Klägers ermögliche keinen Schluss auf eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit. Der angegebene Vorfall vom 26.01.2023 rechtfertige ebenfalls keine personenbedingte Kündigung, da aus diesem nicht abzuleiten sei, dass der Kläger dauerhaft unfähig sei, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Unbestritten habe er nach dem 26.01.2023 bis zum Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung weiterhin gearbeitet.
Mit ihrer am 04.09.2023 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen und am 12.09.2023 begründeten Berufung wendet sich die Beklagte gegen das am 01.09.2023 zugestellte Urteil.
Die Beklagte führt aus, unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags, dass das Arbeitsgericht die Erkrankungen des Klägers nicht ausreichend berücksichtigt habe. Aufgrund eines Bandscheibenvorfalls mit beidseitiger Lumboischialgie, extremen Rückenschmerzen und erheblichen Einschränkungen der Mobilität sei der Kläger körperlich und medizinisch nicht mehr in der Lage, die vertraglich vereinbarte Tätigkeit als Fahrer eines Krankenfahrdienstes zukünftig auszuüben.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 24.08.2023 aufzuheben und entsprechend dem zuletzt in erster Instanz gestellten Antrag zu entscheiden.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts und weist darauf hin, dass zu Recht festgestellt wurde, dass die streitgegenständliche Kündigung nicht aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt sei. Dies habe sich insbesondere dadurch bestätigt, dass der Kläger seit dem 02.10.2023 wieder in Vollzeit bei der Beklagten arbeitet und voll belastbar ist.
Für weitere Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Schriftsätze der Parteien einschließlich der Anlagen sowie auf die Sitzungsprotokolle verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Berufung der Beklagten ist grundsätzlich statthaft (§ 64 Abs. 1, Abs. 2 lit. c) ArbGG) und wurde gemäß den §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit § 519 ZPO am 04.09.2023 form- und fristgerecht gegen das am 01.09.2023 zugestellte Urteil eingelegt. Sie wurde innerhalb der Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß begründet. Somit ist die Berufung insgesamt zulässig.
II.
Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage zu Recht und mit überzeugender Begründung stattgegeben.
Nachdem der Kläger, der sich auf die Anwendbarkeit des KSchG gemäß den §§ 1, 23 KSchG berufen konnte, innerhalb der Frist der §§ 4, 7 KSchG die zulässige Kündigungsschutzklage eingereicht hatte, war die streitgegenständliche Kündigung vom 06.05.2023 hinsichtlich ihrer sozialen Rechtfertigung zu überprüfen. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1, Abs. 2 KSchG rechtsunwirksam und hat das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht beendet, da sie sozial ungerechtfertigt ist. Sie ist insbesondere nicht aus Gründen, die in der Person des Klägers liegen, gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG gerechtfertigt.
1. Die soziale Rechtfertigung von Kündigungen, die aufgrund von Krankheiten ausgesprochen werden, ist in drei Schritten zu prüfen. Eine krankheitsbedingte Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, wenn zunächst eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen zukünftigen Arbeitsunfähigkeitszeiten vorliegt – das ist die erste Stufe. In der zweiten Stufe ist festzustellen, dass dadurch eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gegeben ist. Schließlich ergibt die Interessenabwägung in der dritten Stufe, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer nicht mehr zumutbaren Belastung für den Betrieb führen (vgl. BAG, Urteil vom 13.05.2015 – 2 AZR 565/14 – juris, Rn. 12).
2. Im vorliegenden Fall fehlen bereits auf der ersten Stufe ausreichende objektive Anhaltspunkte, um zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung gegenüber dem Kläger von einer negativen Gesundheitsprognose ausgehen zu können. Die Beklagte hat keinerlei Umstände dargelegt, die zu diesem Zeitpunkt auf eine d…
Die Beklagte hat keine Umstände vorgebracht, die zum Zeitpunkt der Kündigung auf eine dauerhafte oder zumindest längere Arbeitsunfähigkeit des Klägers hindeuteten.
a)Die Beweispflicht für die negative Zukunftsprognose liegt bei der arbeitgebenden Partei (vgl. BAG, Urteil vom 12.04.2002, 2 AZR 148/01, juris). Bei einer krankheitsbedingten, dauerhaften Leistungsunfähigkeit ist eine negative Prognose bezüglich der zukünftigen Entwicklung des Gesundheitszustands indiziert. Der Zustand der dauerhaften Leistungsunfähigkeit entspricht der völligen Ungewissheit über die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Eine solche Ungewissheit liegt vor, wenn innerhalb eines absehbaren Zeitraums keine positive Entwicklung zu erwarten ist. In diesem Zusammenhang wird ein Zeitraum von bis zu 24 Monaten als absehbar betrachtet (vgl. BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13, juris, Rn. 14). Die spätere Entwicklung einer Erkrankung nach Ausspruch der Kündigung kann nicht zur Bestätigung oder Korrektur der Prognose herangezogen werden; entscheidend ist allein der Zeitpunkt der Kündigung (BAG, Urteil vom 12.04.2002 – 2 AZR 148/01 –, juris, Rn. 42). Darüber hinaus stellt eine lang andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit in der unmittelbaren Vergangenheit ein gewisses Indiz für die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit in der Zukunft dar. Die arbeitgebende Partei erfüllt somit ihre Darlegungslast für eine negative Prognose initial, wenn sie die bisherige Dauer der Erkrankung sowie die ihr bekannten Krankheitsursachen darlegt (vgl. BAG, Urteil vom 12.07.2007 – 2 AZR 716/06 – juris, Rn. 27). Es gibt keine festen Grenzen, ab wann eine Erkrankung als langanhaltend angesehen werden kann. Jedenfalls wurde eine Erkrankung von mindestens acht Monaten als langanhaltend betrachtet (vgl. BAG, Urteil vom 29.04.1999 – 2 AZR 431/98 –, juris, Rn. 32).
b) Unter Berücksichtigung der obigen Grundsätze war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung aufgrund der von der Beklagten vorgebrachten objektiven Umstände eine negative Prognose hinsichtlich der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers, sei es ausgeschlossen oder völlig ungewiss, nicht gerechtfertigt.
aa) Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung war der Kläger erst seit fünf Wochen arbeitsunfähig. Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass der Kläger bereits vor der am 01.04.2023 beginnenden Arbeitsunfähigkeit vorerkrankt war oder erhebliche Krankheitszeiten hatte. Solange der sechs Wochen währende Zeitraum gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG noch nicht abgelaufen ist, kann die bisherige Dauer einer Erkrankung allein nicht als Indiz für eine dauerhafte oder lang andauernde Arbeitsunfähigkeit herangezogen werden (vgl. ebenso bei einer zweimonatigen Erkrankungsdauer: LAG Köln, Urteil vom 25.08.1995 – 13 Sa 440/95, juris; bei einer dreimonatigen Erkrankungsdauer: LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.04.2013 – 9 Sa 237/12 –, juris).
bb) Soweit die Beklagte argumentiert, dass sich aus der Schwere der zum Kündigungszeitpunkt vorliegenden Diagnosen in Verbindung mit dem klägerischen Schreiben vom 01.04.2023 eine negative Zukunftsprognose ableiten lasse, ist dies, wie bereits das Arbeitsgericht festgestellt hat, nicht nachvollziehbar. Zwar hatte der Kläger zu diesem Zeitpunkt unbestritten einen Bandscheibenvorfall mit beidseitiger Lumboischialgie, extremen Rückenschmerzen sowie Mobilitätseinschränkungen und eine Nervenverletzung in der Wirbelsäule. Dennoch hat die Beklagte, auch im Rahmen ihrer Berufungsbegründung, nicht dargelegt, warum diese Diagnosen entgegen der Annahme des Arbeitsgerichts auf eine dauerhafte Erkrankung oder eine völlige Ungewissheit in Bezug auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit hindeuten sollten. Die Tatsache, dass die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht absehbar ist, bedeutet nicht automatisch, dass die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit innerhalb der nächsten 24 Monate nicht zu erwarten ist (vgl. BAG, Urteil vom 22.10.2015 – 2 AZR 550/14, juris, Rn. 27; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.04.2013 – 9 Sa 237/12 –, juris, Rn. 57). Auch aus dem Schreiben des Klägers vom 01.04.2023 lassen sich keine Anhaltspunkte für eine negative Zukunftsprognose ableiten. Darin informiert der Kläger zwar über seine Erkrankung und beschreibt entsprechende Symptome, betont jedoch gleichzeitig, dass eine ärztliche Behandlung geplant sei und er zuversichtlich sei, bald wieder arbeiten zu können.
cc) Die Tatsache, dass der Kläger am 26.01.2023 eine Patientin im Rollstuhl nicht korrekt angeschnallt hat, ist ebenfalls nicht geeignet, eine negative Zukunftsprognose abzuleiten. Aus dem Vorbringen der Beklagten geht bereits nicht hervor, dass das fehlerhafte Anschnallen tatsächlich mit der Erkrankung des Klägers in Zusammenhang stand und nicht auf andere Ursachen wie Unachtsamkeit oder technisches Versagen zurückzuführen war.
c) Insgesamt sind die von der Beklagten vorgetragenen Umstände unzureichend, um eine dauerhafte oder zumindest lang andauernde Arbeitsunfähigkeit des Klägers zu belegen. Daher war der Kläger nicht verpflichtet, seinerseits darzulegen, weshalb zum Zeitpunkt der Kündigung von einer baldigen Genesung auszugehen war.