Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 14.07.2025, Aktenzeichen 4 SLa 26/24
Leitsatz:
Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist (im Anschluss an BAG, Urteil vom 20. Juni 2024 – 2 AZR 213/23 –, Rn. 13, juris; BGH, Urteil vom 12. Dezember 2023 – VI ZR 76/23 –, Rn. 19, juris). Sind auf der Reproduktion des Zustellbelegs bei einem Einwurf-Einschreiben die Art der Sendung (Einschreiben Einwurf), die Sendungsnummer, die Postleitzahl und der Zustellbezirk erfasst, stehen unter der Kategorie Empfangsberechtigter zum Ankreuzen die Möglichkeiten „Empf“, „EmpfBev“ und „And.EmpfBer“ zur Verfügung und steht hinter dem Titel Empfangsbestätigung der Text „Ich habe die o.g. Sendung dem Empfangsberechtigten übergeben, bzw. das Einschreiben Einwurf in die Empfangsvorrichtung des Empfängers eingelegt“, streitet bei Übersendung eines Schriftstücks per Einwurf-Einschreiben und gleichzeitiger Vorlage des Einlieferungsbelegs und der Reproduktion des Auslieferungsbelegs nicht der Beweis des ersten Anscheins für den Zugang dieses Schriftstücks bei dem Empfänger.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 14. Juli 2025 (Az. 4 SLa 2624) behandelt die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten ordentlichen Kündigung einer langjährig beschäftigten Person durch ihren Arbeitgeber im Bereich der Abfallwirtschaft. Das Gericht wies die Berufung der Beklagten gegen das Arbeitsgericht Hamburg zurück und bestätigte die Unwirksamkeit der Kündigung sowie den Weiterbeschäftigungsanspruch.
Streitgegenstand und Ausgangslage:
Der Kläger war seit 2015 als Entsorger tätig und zeigte wiederholt krankheitsbedingte Fehlzeiten, darunter viele Kurzzeiterkrankungen und einzelne Unfälle. Die Beklagte begründete die Kündigung mit einer negativen Gesundheitsprognose, hohen Entgeltfortzahlungskosten und Störungen im Betriebsablauf, die durch die häufigen Fehlzeiten verursacht wurden. Die Beklagte hatte wiederholt Einladungen zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) ausgesprochen. Die zentrale Streitfrage war, ob der Kläger die Einladung zum bEM im Oktober 2023 tatsächlich erhalten hat – dies ist laut Entscheidung nicht nachweisbar.
EntscheidungsbegrĂĽndung:
Negative Gesundheitsprognose:Â
Das Gericht stellte fest, dass die vorliegenden Fehlzeiten grundsätzlich eine negative Gesundheitsprognose begründeten (Referenzzeitraum: drei Jahre vor Zugang der Kündigung, mit über sechs Wochen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit pro Jahr).
Erhebliche Beeinträchtigung:Â
Die krankheitsbedingten Fehlzeiten führten zu erheblichen wirtschaftlichen Belastungen für die Beklagte (Entgeltfortzahlungskosten über dem Schwellenwert) und zu Störungen im Betriebsablauf.
Verhältnismäßigkeit und milderes Mittel:Â
Die Kündigung wurde als unverhältnismäßig bewertet, da die Beklagte ihrer erweiterten Darlegungslast bezüglich milderer Mittel (wie Durchführung eines weiteren bEM) nicht ausreichend nachgekommen ist. Das Gericht ging davon aus, dass ein weiteres bEM zur Vermeidung zukünftiger Fehlzeiten zumindest geeignet gewesen wäre. Die Beklagte konnte nicht nachweisen, dass ein solches Angebot dem Kläger zugegangen war. Ein Beweis des ersten Anscheins aus dem dokumentierten Zustellverfahren (Einwurf-Einschreiben) wurde nicht anerkannt, da die Abläufe hierfür aus Sicht des Gerichts nicht ausreichend typisch und nachvollziehbar dokumentiert sind.
Anhörung des Personalrats:Â
Die Anhörung des Personalrats wurde als ordnungsgemäß bewertet. Der Personalrat war ausreichend und korrekt über die Gründe für die Kündigung informiert worden.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 14. Juli 2025 (Az. 4 SLa 2624) nimmt ausführlich zum Anscheinsbeweis im Zusammenhang mit der Zustellung eines Einwurf-Einschreibens Stellung und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser im konkreten Fall nicht greift. Es stützt sich dabei maßgeblich auf die Änderungen im Zustellverfahren der Deutschen Post sowie die konkrete Beweisaufnahme.
Die Wirksamkeit der krankheitsbedingten Kündigung hing entscheidend davon ab, ob der Kläger eine Einladung zu einem weiteren betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) tatsächlich erhalten hatte. Die Beklagte behauptete, das Einladungsschreiben sei per Einwurf-Einschreiben versendet und zugestellt worden. Die Sendungsverfolgung sowie die Reproduktion des Zustellbelegs wurden als Nachweis vorgelegt und sollten einen Anscheinsbeweis für den Zugang begründen. Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen, bei denen die allgemeine Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder einen vorgegebenen Ablauf hindeutet. Bis zu den technischen Änderungen bei der Deutschen Post bestand die typische Dokumentation darin, dass der Postzusteller nach dem Einwurf das sogenannte Peel-off-Label auf den Auslieferungsbeleg klebte, diesen unterzeichnete und sowohl Einlieferungs- als auch Auslieferungsbeleg vorgelegt wurden. Die Rechtsprechung erkannte dann regelmäßig einen Anscheinsbeweis für den Zugang an.
Heute erfolgt die Dokumentation jedoch über Scannen und elektronische Unterschrift auf einem mobilen Scanner. Die Reproduktion des Zustellbelegs weist keine konkrete Adresse oder genaue Zeit aus, dokumentiert mehrere Zustellvarianten und lässt offen, ob tatsächlich in den Briefkasten des Empfängers eingeworfen oder einer berechtigten Person übergeben wurde. Das Gericht betont, dass der Ablauf dieser digitalen Zustellung nicht mehr so typisch und nachvollziehbar gestaltet ist, dass individuelle Fehler ausgeschlossen werden können. Besonders kritisiert wird, dass ein Empfänger den behaupteten Zugang praktisch nicht widerlegen kann, wenn nur die elektronische Reproduktion als Beweis dient. Die Beweisaufnahme erbrachte zudem keinen sicheren Nachweis durch einen Zeugen – der Postzusteller konnte sich an die konkrete Zustellung nicht erinnern und schilderte den üblichen Ablauf nur unvollständig.
Nach Auffassung des Gerichts reicht die Vorlage der digitalen Reproduktion des Zustellbelegs derzeit nicht für einen Anscheinsbeweis aus. Es fehlt an der erforderlichen Typizität und Nachvollziehbarkeit des Ablaufs; das dokumentierte Verfahren ist fehleranfällig. Das Urteil erkennt das hohe praktische Bedürfnis nach einer einfachen und zuverlässigen Nachweisführung, verweist aber auf Alternativen wie das Übergabe-Einschreiben (mit Empfangsquittung) oder Zustellung durch Boten, deren Abläufe besser dokumentiert und überprüfbar sind.
Die Frage, ob zukünftig und unter Berücksichtigung der sich weiterentwickelnden technischen Verfahren ein Anscheinsbeweis für den Zugang eines Einwurf-Einschreibens angenommen werden kann, wird als grundsätzlicher Klärungsbedarf angesehen.
Bedeutung des Urteils fĂĽr die Praxis:
Das Urteil bestätigt, dass die aktuell praktizierte digitale Dokumentation durch die Deutsche Post nicht ausreichend ist, um den Zugang einer wichtigen Sendung / Willenserklärung im Arbeitsrecht per Anscheinsbeweis zu zeigen. Arbeitgeber müssen insbesondere bei kündigungsrelevanten Schreiben weiterhin mit Unsicherheiten hinsichtlich des Nachweises des Zugangs rechnen und sollten im Zweifel sicherere Zustellformen nutzen.
Das Urteil legt damit die Messlatte für die Anforderungen an den Nachweis des Zugangs per Einwurf-Einschreiben höher und stärkt den Schutz von Arbeitnehmern, indem es die Möglichkeiten zur Erschütterung eines behaupteten Anscheinsbeweises erhält.
