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Schichtzulagen für freigestellte Betriebsratsmitglieder: Anspruch bei Ausübung der Betriebsratsarbeit außerhalb des regulären Schichtsystems

Bundesarbeitsgericht (7. Senat), Urteil vom 28.08.2024, Aktenzeichen 7 AZR 197/23

Einführung und Überblick:

In der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ging es um die zentrale arbeitsrechtliche Frage, ob ein vollständig von seiner beruflichen Tätigkeit freigestelltes Betriebsratsmitglied weiterhin Anspruch auf bestimmte tarifliche Zuschläge sowie Zulagen (Wechselschichtzulage, Zuschläge für Nacht-, Sonntag- und Feiertagsarbeit, Rufbereitschaftsvergütung) hat, selbst wenn die Betriebsratstätigkeit während üblicher Bürozeiten erbracht wird, die tariflich nicht zuschlagspflichtig sind. Ziel der Gesetzgebung ist es, zu verhindern, dass durch Wahrnehmung des Betriebsratsamtes ein Verdienstausfall entsteht oder gar ein Sondervorteil begründet wird.

Sachverhalt:

Der Kläger war vor seiner Freistellung als Notfallsanitäter in Wechselschicht tätig. Aufgrund dieser Tätigkeit erhielt er die genannten Zulagen und Zuschläge. Ab März 2020 war er zu 80% und ab Juni 2022 vollständig von seiner Arbeit für Betriebsratsaufgaben freigestellt. Seine Betriebsratsarbeit leistete er fortan zu den üblichen Bürozeiten (08:00 bis 17:00 Uhr). Der Arbeitgeber verweigerte ihm jedoch weiterhin die Auszahlung der genannten Zuschlagsbestandteile mit dem Hinweis, dass Betriebsratstätigkeit nur während Zeiten erbracht würde, in denen nach Tarif keine Erschwerniszuschläge zu zahlen seien.

Der Kläger begründete, dass er bei unveränderter Tätigkeit weiterhin in Wechselschicht gearbeitet hätte und damit auch die Zulagen bekommen würde. Die Wahrnehmung der Betriebsratsarbeit erfolgte nicht aus eigenem Antrieb zu Bürozeiten, sondern diese Zeitlagen ergaben sich aus dem Arbeitsalltag des Betriebsrats sowie Meetings und der Kontaktpflege mit den tagsüber arbeitenden Beschäftigten. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab – das Bundesarbeitsgericht hingegen sah die Revision des Klägers als begründet und hob das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts auf.

Rechtliche Würdigung und Grundsatzfragen:

1. Das Lohnausfallprinzip und seine Bedeutung

Das BAG begründet seine Entscheidung maßgeblich mit dem sog. Lohnausfallprinzip (§ 37 Abs. 2 BetrVG). Danach ist das Arbeitsentgelt so weiterzuzahlen, als hätte das Betriebsratsmitglied seine reguläre Tätigkeit ohne Freistellung ausgeübt. Die Berechnung der Vergütung erfolgt hypothetisch: Es wird betrachtet, welche Vergütung das Betriebsratsmitglied erhalten hätte, wenn es keine Betriebsratstätigkeit, sondern die ursprüngliche Tätigkeit erbracht hätte. Dies umfasst alle zulagenpflichtigen Bestandteile; bloße Aufwendungsersatzleistungen sind hiervon ausgenommen.

Maßgeblich ist die Arbeitszeitlage, die das Betriebsratsmitglied bei unveränderter Tätigkeit gehabt hätte. Eine „Verdienstprüfung“ oder eine tatsächliche Prüfung der Betriebsratstätigkeitszeiten ist nicht zulässig. Dies stellt eine klare Abgrenzung zur bisherigen Rechtsprechung dar und verdeutlicht die Schutzfunktion des Lohnausfallprinzips.

2. Keine Benachteiligung – aber auch keine Begünstigung

Das Verbot der Ungleichbehandlung (§ 78 Satz 2 BetrVG) besagt, dass Mitglieder des Betriebsrats wegen ihrer Betriebsratstätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden dürfen. Eine Besserstellung im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern – insbesondere solchen, die gleiche Tätigkeiten in Wechselschicht ausüben – ist ebenso unerwünscht wie eine Schlechterstellung. Deshalb ist die Vergleichsgruppe, auf die abzustellen ist, diejenige, zu der das Betriebsratsmitglied vor seiner Freistellung gehörte. Im Kern bedeutet das: Die Zuschläge und Zulagen müssen auch bei Freistellung zur Betriebsratstätigkeit weitergezahlt werden, sofern sie ohne Freistellung weiterhin angefallen wären.

Entscheidungsgründe und deren praktische Konsequenzen:

1. Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen

Das BAG stellt klar, dass die Anspruchsvoraussetzungen allein daran zu messen sind, ob das Betriebsratsmitglied ohne Freistellung weiterhin Anspruch auf die fraglichen Zulagen und Zuschläge gehabt hätte „wie zuvor“. Hierbei ist zu ermitteln, wie die Arbeitszeit des Klägers nach Dienstplänen ausgesehen hätte, wenn keine Freistellung erfolgt wäre.

2. Berechnung der einzelnen Vergütungsbestandteile

Für die Berechnung der Zulagen und Zuschläge ist eine Gesamtbetrachtung über den verlangten Zeitraum anzustellen. Bereits tatsächlich geleistete Zuschläge oder pauschale Zahlungen in dem Zeitraum sind anzurechnen. Im Fall von variablen Bezugsgrößen ist eine Schätzung vorzunehmen, wie sie das Zivilprozessrecht in § 287 ZPO erlaubt. Das Ziel ist, das Betriebsratsmitglied finanziell so zu stellen, als hätte es keine Betriebsratstätigkeit ausgeübt.

3. Keine automatische Kürzung bei Tätigkeit zu „falschen Zeiten“

Selbst wenn die Betriebsratstätigkeit nicht zu zuschlagspflichtigen Zeiten ausgeübt wurde, findet keine Kürzung der Zulagen und Zuschläge statt. Die zeitliche Lage der Betriebsratstätigkeit bleibt irrelevant, solange keine einvernehmliche Änderung der Arbeitsvertragsbedingungen (z. B. Umstellung auf reine Tagesarbeit) vorliegt. Das gilt selbst dann, wenn die Betriebsratstätigkeit eigenverantwortlich während der Bürozeiten ausgeübt wurde und dies der Arbeitgeber toleriert hat.

Verhältnis zu bisheriger Rechtsprechung:

Das Urteil bestätigt und erweitert eine Reihe von früheren Entscheidungen des BAG, die bereits an das Lohnausfallprinzip und die Nichtbenachteiligung von Betriebsratsmitgliedern anknüpften (z. B. BAG 29.08.2018 – 7 AZR 206/17). Es grenzt sich jedoch bewusst von Fällen ab, in denen eine Änderung der Arbeitszeitlage auf eine eigenständige Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zurückzuführen ist.

Das BAG betont, dass eine solche Vereinbarung (z. B. reine Tagesschicht anstelle von Wechselschicht infolge der Betriebsratstätigkeit) den Anspruch auf die Zulagen entfallen lassen könnte. Für den hiesigen Fall lag eine solche Vertragsänderung jedoch ausdrücklich nicht vor.

Bedeutung für die Praxis und für die Betriebsratsarbeit: 

Das Urteil hat unmittelbare und weitreichende Bedeutung für Praxis und Rechtssicherheit in Unternehmen. Betriebsratsmitglieder müssen keine finanziellen Nachteile befürchten, wenn sie zur Wahrnehmung von Betriebsratstätigkeiten von der beruflichen Tätigkeit freigestellt werden. Dadurch wird die Bereitschaft, ein Betriebsratsamt zu übernehmen, gestärkt. Unternehmen und Betriebsräte haben Klarheit darüber, nach welchen Maßstäben erfolgte Zulagen und Zuschläge zu berechnen sind.

Gerade im Bereich der Schichtarbeit und in Unternehmen mit tariflichen Sonderregelungen verhindert das Urteil, dass Betriebsratsmitglieder wegen ihrer Amtsausübung pauschal schlechter gestellt werden.

Tenor und weitere Verfahrensschritte: 

Das BAG hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und die Sache zur weiteren Entscheidungsfindung und konkreten Berechnung der Ansprüche an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dort muss nun anhand der Dienstpläne des Klägers im streitigen Zeitraum und unter Berücksichtigung des Lohnausfallprinzips festgestellt werden, wie hoch die Ansprüche tatsächlich sind.

Zusammenfassung der Kernaussagen: 

•   Ein Betriebsratsmitglied hat auch bei vollständiger Freistellung weiterhin Anspruch auf Wechselschichtzulage, Zuschläge für Nacht-, Sonntag- und Feiertagsarbeit sowie eine Rufbereitschaftsvergütung, sofern sich der Anspruch aus der hypothetischen Fortführung seiner ursprünglichen Tätigkeit ergeben hätte.

•   Maßgeblich ist nicht die tatsächliche Ausübung der Betriebsratstätigkeit zu tariflich zuschlagspflichtigen Zeiten, sondern allein der hypothetische Verlauf der regulären Tätigkeit bei unveränderter Arbeitszeitlage.

•   Betriebsratsmitglieder dürfen weder benachteiligt noch begünstigt werden – entscheidend ist die Vergleichsgruppe der Arbeitnehmer mit identischer Tätigkeit und Schichtlage wie vor der Freistellung.

•   Die Entscheidung stärkt die Rechtssicherheit für Betriebsräte, Arbeitgeber und Beschäftigte in Bezug auf die Vergütung von Betriebsratsmitgliedern und deren finanzielle Absicherung.