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Schwerbehinderte Person – Anspruch auf vertragsfremde Beschäftigung

Leidensgerechte Beschäftigung

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 12.01.2022, Aktenzeichen 3 Sa 540/21

Eine schwerbehinderte Person hat gegenüber ihrer Arbeitgeberin Anspruch auch auf anderweitige, vertragsfremde Beschäftigung, wenn sie ihre vertraglich geschuldete Tätigkeit wegen ihrer Behinderung nicht mehr ausüben kann.

Eine 35-jährige medizinische Fachangestellte leidet unter Multiple Sklerose und bekam deshalb einen Grad der Schwerbehinderung von 50% zugesprochen. Im Zeitraum von Mitte Januar 2020 bis Anfang Februar 2021 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Wegen der Langzeiterkrankung wurde ein Gespräch zum betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement (BEM) geführt. In diesem Gespräch wurde u.a. eine Tätigkeit der medizinischen Fachangestellten im Homeoffice thematisiert. Im Nachgang lehnte die Arbeitgeberin jedoch eine Tätigkeit im Homeoffice ab.

Die medizinische Fachangestellte reichte eine Klage beim Arbeitsgericht ein und begehrte eine Tätigkeit im Homeoffice. Das Arbeitsgericht wies die Klage mit der Begründung ab, die Arbeitgeberin sei nicht zur Einrichtung eines zusätzlichen Arbeitsplatzes verpflichtet. Die Überlegungen hätten sich im Planungsstadium befunden, eine entsprechende Tätigkeit sei nicht vereinbart worden. Die Möglichkeiten zur Einrichtung eines Homeoffice-Arbeitsplatzes seien diskutiert worden, ebenso zu beantragende Zuschüsse und eine andere Entgelteinstufung. Eine verbindliche Zusage sei jedoch nicht erteilt worden. Der Abschluss einer verbindlichen Vereinbarung scheitere bereits an der fehlenden Berechtigung der teilnehmenden Praxismanagerin.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legte die medizinische Fachangestellte Berufung beim Landesarbeitsgericht ein.

Sie argumentierte, im BEM-Gespräch habe sie dem Vorschlag der Arbeitgeberin zur Vertragsänderung zugestimmt. Somit sei eine Einigung über die zukünftige Ausgestaltung des Arbeitsplatzes zustande gekommen. Es habe konkrete Zusagen zur Umgestaltung des Arbeitsplatzes in einen Heimarbeitsplatz gegeben. Um einen anderen Arbeitsplatz handele es sich nicht, da sie weiter als medizinische Fachangestellte beschäftigt werden könne.

Die Arbeitgeberin bestreitet eine Einigung über die Änderung des Arbeitsvertrages. Es habe sich lediglich um ein Sondierungsgespräch gehandelt. Ein neuer Arbeitsplatz müsste erst von der Arbeitgeberin geschaffen werden. Eine medizinische Angestellte müsse notwendigerweise in der Arztpraxis tätig sein, da nur dort der wesentliche Teil der Tätigkeit erbracht werden könnte. Dazu gehört die Assistenz des Arztes, der Patientenempfang sowie die Unterstützung bei der Diagnostik in der Praxis. Die Einrichtung des begehrten Arbeitsplatzes sei aufgrund hoher Aufwendungen zudem unverhältnismäßig.

Das Landesarbeitsgericht entschied, die Berufung der medizinischen Fachangestellten ist erfolglos. Die Parteien haben im BEM-Gespräch keinen rechtswirksamen Änderungsvertrag geschlossen. Die Arbeitgeberin habe die fehlende Vertretungsmacht der Praxismanagerin bezüglich der Abgabe derartiger Zusagen angeführt. Die medizinische Fachangestellte habe nichts Gegenteiliges beweisen können und nur pauschal vorgetragen, die angeblichen Vorschläge der Praxisleitung seien mit der Geschäftsleitung vorab abgesprochen worden.

Mangels näherer konkreter Sachangaben ist dieser Vortrag für die Arbeitgeberin nicht einlassungsfähig und damit prozessual unbeachtlich. Eine unterstellte Zusage der Praxismanagerin wäre damit jedenfalls wegen fehlender Vertretungsmacht zunächst gemäß § 177 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) schwebend unwirksam und durch Verweigerung der Genehmigung durch die Arbeitgeberin gemäß § 184 Absatz 1 BGB endgültig unwirksam geworden.

Ist die Arbeitnehmerin aus in ihrer Person liegenden Gründen nicht mehr in der Lage, die von der Arbeitgeberin aufgrund ihres Direktionsrechts nach § 106 Satz 1 GewO (Gewerbeordnung) näher bestimmte Leistung zu erbringen, kann es die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Absatz 2 BGB gebieten, dass die Arbeitgeberin von ihrem Direktionsrecht erneut Gebrauch macht und der leistungsgeminderten Arbeitnehmerin innerhalb des arbeitsvertraglich vereinbarten Rahmens eine Tätigkeit überträgt, zu deren Erbringung diese noch in der Lage ist. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeberin die entsprechende Neubestimmung der auszuübenden Tätigkeit rechtlich möglich und zumutbar ist. Eine Verpflichtung zur vertragsfremden Beschäftigung begründet das Gebot der Rücksichtnahme nicht. Die Arbeitgeberin kann im Rahmen der Rücksichtnahmepflicht lediglich gehalten sein, dem Wunsch der Arbeitnehmerin nach einer Vertragsanpassung nachzukommen, insbesondere wenn anderenfalls ein dauerhaftes Unvermögen der Arbeitnehmerin droht.

An diesen Grundsätzen gemessen ist die Arbeitgeberin nicht verpflichtet der medizinischen Fachangestellten die begehrte Beschäftigung zuzuweisen. Die begehrte Tätigkeit stellt im Vergleich zur Beschäftigung als medizinische Fachangestellte eine vertragsfremde Beschäftigung dar. Weder Arbeitsinhalt noch Arbeitsort stimmen mit den Regelungen im Arbeitsvertrag überein.

Die das Berufsbild als medizinische Fachangestellte prägenden Merkmale wie Arztassistenz, der Patientenempfang sowie die Diagnostik erfordern jeweils eine Tätigkeit in der Praxis vor Ort und können nicht im Homeoffice erledigt werden. Bei der begehrten Tätigkeit im Homeoffice würde die medizinische Fachangestellte zwei prägende Tätigkeiten nicht mehr ausüben, nämlich die Arztassistenz und die Diagnostik. Der Patientenempfang käme nur noch äußerst eingeschränkt zum Tragen soweit dieser elektronisch ausgeübt werden könnte.

Ist im Arbeitsvertrag der Arbeitsort fest geregelt, ist kein Raum für die Ausübung des Direktionsrechts in örtlicher Hinsicht. Die Zuweisung des privaten Wohnortes als Arbeitsort ist jedoch arbeitsvertraglich nicht vereinbart worden. Die mit der begehrten Tätigkeit verbundene Herabstufung in der Entgelttabelle zeigt, dass es sich nicht um eine gleichwertige Tätigkeit als medizinische Fachangestellte handelt, sondern um eine vertragsfremde Beschäftigung.

Eine schwerbehinderte Person hat gegenüber ihrer Arbeitgeberin Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln kann. Daraus kann sich ein Anspruch der schwerbehinderten Person auf anderweitige – auch vertragsfremde – Beschäftigung ergeben, wenn sie ihre vertraglich geschuldete Tätigkeit wegen ihrer Behinderung nicht mehr ausüben kann.

Ein Anspruch besteht aber nicht, soweit die Erfüllung für die Arbeitgeberin nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre. Insbesondere muss die Arbeitgeberin keinen zusätzlichen, bisher nicht vorhandenen und nicht benötigten Arbeitsplatz dauerhaft einrichten.

Die medizinische Fachangestellte kann zwar aufgrund ihrer Erkrankung die vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben. Ein Anspruch auf die Zuweisung der beantragten vertragsfremden Beschäftigung scheitert aber daran, dass es bei der Arbeitgeberin einen solchen Arbeitsplatz bislang nicht gibt. Die Arbeitgeberin müsste einen solchen Arbeitsplatz unter Aufwendung finanzieller Mittel erst schaffen. Ein technisches System das eine solche Tätigkeit im Homeoffice ermöglichen würde, besteht bei ihr nicht.

Die Möglichkeit einer Zuschussgewährung führt nicht dazu, dass die Arbeitgeberin verpflichtet ist, einen solchen bislang nicht bestehenden Arbeitsplatz einzurichten.

Die Arbeitgeberin hat der Beschäftigten im Fall von Büroarbeit oder vergleichbaren Tätigkeiten anzubieten, diese Tätigkeit in deren Wohnung auszuführen, wenn keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich bei der Tätigkeit, die im Homeoffice ausgeübt werden soll, um dieselbe Tätigkeit handelt, die zuvor ausgeübt worden ist. Dies ist hier jedoch nicht der Fall, da eine vertragsfremde Beschäftigung begehrt wird.

Eine Revision zu dieser Entscheidung wurde nicht zugelassen.