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Betriebsvereinbarung hebelt Tarifvertrag nicht aus

Tarifvertrag geht vor Betriebsvereinbarung

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 30.Oktober 2013, Aktenzeichen 7 TaBV 56/13

Regelungen über Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die im Tarifvertrag geregelt sind, können nicht durch anderslautende Regelungen in Betriebsvereinbarungen ersetzt werden, es sei denn, der Tarifvertrag lässt dies ausdrücklich zu. (Siehe § 77 Abs. 3 BetrVG)

Tarifautonomie könne nur funktionieren, wenn die Vertragsparteien diese akzeptieren und nicht versuchen, die getroffenen Regelungen durch abweichende betriebliche Regelungen anders zu gestalten erläutert das Landesarbeitsgericht Düsseldorf. Die Betriebsparteien könnten auch keine Regelungen treffen, die mit denen im Tarifvertrag konkurrieren würden.

Zwischen der Arbeitgeberin, einer Dienstleisterin im Bankenwesen und dem Betriebsrat herrschten unterschiedliche Auffassungen über die Gültigkeit des § 4 der Betriebsvereinbarung (BV).

Mindestens seit dem Jahr 1969 enthält die Betriebsvereinbarung im § 4 die Regelung, dass Mitarbeiter mit mehr als 20-jähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit nur aus einem in ihrer Person liegenden wichtigen Grund gekündigt werden können. Seither wurde die Betriebsvereinbarung mehrfach überarbeitet, § 4 blieb unverändert.

Für außertarifliche Angestellte wurde seit dem Jahr 2001 im Arbeitsvertrag die Anwendung von § 4 des BVG ausgeschlossen.

Dem Betriebsrat teilte die Arbeitgeberin im Mai 2012 mit, § 4 des BVG sei für alle nach dem 12.11.1975 geschlossenen Arbeitsverhältnisse ungültig, da er gegen § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes verstoße. Der Betriebsrat hingegen vertrat die Auffassung, § 4 BVG sei nicht ungültig. § 17 Ziffer 3 des Manteltarifvertrages würde sich anderen Regelungen widmen.

Im § 17 Ziffer 3 des Manteltarifvertrages wurden am 12.11.1975 folgende Regelungen aufgenommen.

„Arbeitnehmer, die das 50. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb mindestens zehn Jahre ununterbrochen angehören, sind nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und bei Betriebsänderungen im Sinne des § 111 BetrVG kündbar.
Das gilt nicht, wenn ein Anspruch auf Altersruhegeld bzw. vorgezogenes Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder Rente wegen Erwerbsminderung geltend gemacht werden kann. Im Fall des Eintretens der teilweisen Erwerbsminderung und der teilweisen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit entfällt der Kündigungsschutz nur unter der weiteren Voraussetzung, dass für den Arbeitnehmer kein seinem Leistungsvermögen angemessener Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt worden ist oder werden kann.
Die Möglichkeit der Änderungskündigung bleibt unberührt. Für die Verdienstsicherung gilt § 7 Ziffer 5 MTV.”

Der Manteltarifvertrag regelt in § 19 Ziffer 3 unverändert seit 1954, dass günstigere Arbeitsbestimmungen, auf die ein Arbeitnehmer durch Betriebsvereinbarung oder einen besonderen Arbeitsvertrag Anspruch hat, bestehen bleiben.

Nach Ansicht des Betriebsrats ließe diese Regelung eindeutig zu, dass ergänzende Betriebsvereinbarungen und günstigere Regelungen möglich seien.

In einem zwischen beiden Parteien vereinbarten Rationalisierungsschutzabkommen (RSA) zur Absicherung von Einkommen und Arbeitsplätzen bei Rationalisierungsmaßnahmen ist geregelt, dass günstigere gesetzliche, tarifliche und günstigere betriebliche oder einzelvertragliche Bestimmungen von diesem Abkommen unberührt bleiben.

Die Unberührtheit günstigerer Regelungen enthält auch der zur Restrukturierung und Beschäftigungssicherung zwischen den Tarifparteien abgeschlossene Haustarifvertrag (HTV) in der Fassung vom 20.12.2011.

Bisher hatte der §4 der BV keine praktische Bedeutung, da keine betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen wurden. Die Arbeitgeberin kündigte jedoch vorsorglich § 4 der Betriebsvereinbarung zum 30.06.2013.

Der Betriebsrat beantragte beim Arbeitsgericht die Feststellung, dass die Kündigung des § 4 die bis zum Kündigungstermin entstandenen Sonderkündigungsrechte nicht berührt.

Es sollte auch festgestellt werden, dass § 4 der BV nicht aufgrund von § 17 Absatz 3 MTV wegen Verstoß gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam ist.

Alle im Arbeitsvertrag geregelten Ausschlüsse des § 4 BV mit außertariflichen Angestellten sollten für unwirksam erklärt werden.

Es sei zudem festzustellen, dass ein Sonderkündigungsschutz auch über den Termin der Kündigung von § 4 BV fortbesteht.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf wies die Beschwerde des Betriebsrats gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts Düsseldorf zurück.

Das LAG begründet:

§ 4 der Betriebsvereinbarung verstößt gegen § 77 Abs. 3 BetrVG. Der § 17 Ziffer 3 des Manteltarifvertrages enthält keine Öffnungsklausel die eine Konkurrenz zwischen beiden Vorschriften zulassen würde.

Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Damit wird nach geltender Rechtsprechung die Tarifautonomie gewahrt.

Die Tarifvertragsparteien erhalten das Vorrangrecht zur Regelung von Arbeitsbedingungen. Mit dieser Verfahrensweise wird ausgeschlossen, dass die Betriebsparteien Regelungen treffen, die ihrem Zweck nach mit entsprechenden Tarifverträgen konkurrieren würden.

§ 77 Abs. 3 BetrVG enthält keine Formulierung, die günstigere Regelungen bevorzugt.

Die sonstigen Arbeitsbedingungen aus § 77 Abs. 3 BetrVG umfassen alle Regelungen, die inhaltlicher Gegenstand eines Tarifvertrages sein können. Der Sonderkündigungsschutz für Arbeitnehmer ist darin eingeschlossen.

Für die Betrachtung konkurrierender Bestimmungen ist prüfen, ob nach dem Willen der Tarifparteien die Angelegenheit abschließend geregelt sein soll. Sind im Tarifvertrag nur lückenhafte Rahmenregelungen vorhanden, könnten diese durch Betriebsvereinbarungen ausgefüllt werden.

Nach diesen Grundsätzen trifft § 17 Ziffer 3 des Manteltarifvertrages eine abschließende Regelung, in Form eines Ausschlusses des ordentlichen Kündigungsrechts. Damit wird ein Sonderkündigungsschutz für langjährig tätige Mitarbeiter erreicht. § 17 Ziffer 3 des MTV enthält einen Schutz gegen verhaltensbedingte und personenbedingte Kündigungen sowie gegen betriebsbedingte Kündigungen. Der Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen wird lediglich für Betriebsänderungen eingeschränkt.
 
§ 4 BV regelt keine Lücke von § 17 Ziffer 3 MTV, sondern will die tarifvertraglich vorgegebene Einschränkung des Sonderkündigungsschutzes vor betriebsbedingten Kündigungen ändern. Genau das lässt § 77 Abs. 3 BetrVG mit seiner Sperrwirkung nicht zu.

Betriebsvereinbarungen bewirken entgegen dem Vortrag des Betriebsrats keinen Vertrauensschutz. Einen Vertrauensschutz kann es lediglich für individualrechtliche Verhältnisse zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmer geben, die jedoch in diesem Verfahren nicht zu betrachten waren.

Nach Auffassung des LAG ist der § 4 BV mindestens seit dem Inkrafttreten von  § 17 Ziffer 3 MTV im Jahr 1975 unwirksam. Ein individualrechtlicher Bestandsschutz kommt nicht infrage, da aus reinen Altersgründen kein Mitarbeiter mehr beschäftigt ist, der im Jahr 1975 bereits eine 20-jährige Betriebszugehörigkeit aufweisen konnte.

Die Anträge des Betriebsrats wurden vollständig abgewiesen.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Themas ist die Rechtsbeschwerde an das Bundesarbeitsgericht zugelassen.