Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung
Landesarbeitsgericht, Urteil vom 04.09.2020, Aktenzeichen 8 Sa 833/20
Es fehlt an einem wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung, wenn nach der gebotenen Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen oder statt der Kündigung zunächst eine Abmahnung auszusprechen.
Eine gelernte Arzthelferin ist seit 1993 bei der Arbeitgeberin als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Die kaufmännische Angestellte bekleidete das Amt einer Vorsitzenden des Wahlvorstands für die Betriebsratswahlen im März 2018. Wahlberechtigt waren 165 Arbeitnehmer, darunter 10 Frauen. Der Wahlvorstand verfasste ein Wahlausschreiben welches u.a. beschrieb, dass dem Minderheitengeschlecht der Frauen im Betriebsrat mindestens ein Sitz zustehe.
Erstmalig seit ihrem Eintritt in den Betrieb kandidierte die kaufmännische Angestellte selbst für eine Mitgliedschaft im Betriebsrat. Damit kandidierte erstmals eine Frau für den Betriebsrat im Betrieb der Arbeitgeberin. Die kaufmännische Angestellte erzielte 37 Stimmen und belegte damit den zehnten Rang. Noch im Jahr 2018 wurde die kaufmännische Angestellte zur Betriebsratsvorsitzenden gewählt.
In der Folgezeit entwickelten sich zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat unterschiedliche Ansichten über den erforderlichen Umfang der Betriebsratsarbeit sowie über Fragen von Mehrarbeit.
In einem innerbetrieblichen Gespräch im März 2020 wurde der kaufmännischen Angestellten vorgeworfen, sich durch eine mutmaßliche Täuschung über die Auswirkungen des Wahlergebnisses einen Betriebsratssitz erschlichen zu haben. Sie habe in einem Schreiben des Wahlvorstandes rechtswidrig erklärt, dass der Minderheit der Frauen im Betriebsrat mindestens ein Sitz zustehe.
Sowohl Belegschaft als auch die Seite der Arbeitgeberin seien über die Zusammensetzung des Betriebsrats getäuscht worden. Auf diese Weise habe sie sich Arbeitsbefreiung erschlichen sowie dazu beigetragen, dass zahlreiche Betriebsratssitzungen fehlerhaft besetzt waren und die Beschlüsse dort nicht rechtmäßig gefasst wurden. Sie habe zudem verhindert, dass das rechtmäßig gewählte Betriebsratsmitglied seine Arbeit durchführen konnte. Insbesondere in den über viele Monate wiederholten erschlichenen Arbeitsfreistellungen und in deren Umfang lägen Verstöße gegen die arbeitsvertragliche Pflicht zur Arbeitsleistung, welche es unzumutbar machten, das Dienstverhältnis mit Ihr fortzusetzen.
3 Tage später hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an. In seiner Sitzung am gleichen Tag stimmte der Betriebsrat der außerordentlichen Kündigung zu. Am folgenden Tag kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis fristlos. Dagegen legte die kaufmännische Angestellte Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht ein. Sie beantragte erfolgreich den Erlass einer einstweiligen Verfügung auf Weiterbeschäftigung.
Im Mai 2020 hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat erneut zu einer weiteren beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an. Der Verdacht habe sich aufgrund neuer Erkenntnisse erhärtet. Die Arbeitgeberin bezweifelte den nach ihrer Ansicht hohen Anteil aufgewendeter Betriebsratsarbeit. Es sei beispielsweise nicht einsichtig, welche Rolle das Thema Arbeitszeit/Mehrarbeit ab März 2019 noch bei der sehr hohen Anzahl der Stunden für sonstige Betriebsratsaufgaben gespielt haben sollte.
Beim Arbeitsgericht beantragte die Arbeitgeberin zudem in dem noch anhängigen Beschlussverfahren den Ausschluss der kaufmännischen Angestellten aus dem Betriebsrat nach § 23 Absatz 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz).
In ihrer Klageerwiderung im Rahmen des Beschlussverfahrens erläuterte die kaufmännische Angestellte, die Betriebsratswahl im Jahr 2018 sei nicht fehlerfrei verlaufen. Den entscheidenden Fehler habe die kaufmännische Angestellte in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Wahlvorstandes begangen, weil sie nicht wusste, dass die Frauen als Geschlecht in der Minderheit nicht einen Sitz garantiert erhalten, sondern dass dies nur dann der Fall ist, wenn sie rechnerisch mindestens einen Sitz ausfüllen. Dieser Irrtum beruhte darauf, dass sie nie eine Schulung für die Aufgabe als Wahlvorstand erhalten habe und im Übrigen der Irrtum von dem Personalchef der Arbeitgeberin veranlasst war.
Vorsitzende des Wahlvorstandes sei die kaufmännische Angestellte auf Begehren des Personalchefs geworden, der sagte, sie solle dieses Amt übernehmen. Sie ging davon aus, dass der Betriebsrat die Einsetzung des Wahlvorstandes formal ordnungsgemäß beschlossen habe. Der Personalchef fragte sie auch, welche weiteren Personen für den Wahlvorstand benannt werden sollten und kam ihrem Wunsch nach.
Sie habe nie eine Schulung für ihre Tätigkeit als Wahlvorstand erhalten, obwohl sie mehrmals darum gebeten habe. Der Personalleiter habe ihr erklärt, er werde ihr helfen, so dass sie keine Schulung benötige.
Im weiteren Fortschritt der Wahl erklärte sie dem Personalleiter, dass sie auch für den Betriebsrat kandidieren werde.
Die Wahlergebnisse wurden ebenso wie bereits zuvor das Wahlausschreiben, das den Fehler bei Geschlechterquote enthielt, durch den Personalleiter bekannt gemacht. Die Wahl sei nicht innerhalb von 2 Wochen entsprechend § 19 BetrVG angefochten worden.
Mit Schreiben vom Mai 2020 teilte der Betriebsrat mit, dass er der außerordentlichen Nachkündigung zustimme. Am gleichen Tag kündigte die Arbeitgeberin das zwischen Parteien bestehende Arbeitsverhältnis erneut hilfsweise fristlos.
Auch gegen diese Kündigung legte die kaufmännische Angestellte Kündigungsschutzklage ein. Sie sei im März 2018 einem Irrtum hinsichtlich der Auswirkungen des tatsächlichen Wahlergebnisses auf die Zusammensetzung des Betriebsrates unterlegen.
Weiterhin führte sie aus, der Umfang der Arbeitszeit des Betriebsrats sei nicht zu beanstanden. Insbesondere habe die Arbeitgeberin die Erforderlichkeit der Betriebsratstätigkeit nicht im dafür vorgesehenen Beschlussverfahren beanstandet. Nachdem die Arbeitgeberin zunächst im Beschlussverfahren völlig überhöhte Zahlen vorgetragen habe, begründeten die zuletzt vorgetragenen Zahlen jedenfalls keine offensichtliche übermäßige Freistellung. Die kaufmännische Angestellte habe kurz nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden im Gremium erklärt, sie wolle Ihr Amt ernst nehmen, was mit sehr viel Arbeit verbunden sei.
Letztlich habe die Arbeitgeberin die Erforderlichkeit der Betriebsratsarbeit nie förmlich beanstandet und auch nie ihre Entgeltzahlungspflicht in Abrede gestellt. Erst recht sei nie eine Abmahnung erteilt worden. Die kaufmännische Angestellte beantragte festzustellen, dass die beiden Kündigungen das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet haben, sowie sie nach Obsiegen in der ersten Instanz bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als kaufmännische Angestellte weiter zu beschäftigen.
Die Arbeitgeberin behauptete, zum Zeitpunkt des Ausspruchs der ersten außerordentlichen Kündigung habe sie den dringenden Verdacht gehabt, dass die kaufmännische Angestellte im März 2018 vorsätzlich und damit entgegen besseren Wissens über die Auswirkungen des Wahlergebnisses getäuscht und sich so einen Sitz im Betriebsrat erschlichen habe.
Der kaufmännischen Angestellten sei zum Zeitpunkt der Erstellung des Wahlausschreibens bekannt gewesen, dass das Minderheitengeschlecht nicht in jedem Falle mit einem Sitz im Betriebsrat vertreten sei. Die kaufmännische Angestellte habe den Wahlleitfaden gekannt, in dem das Höchstzahlverfahren beschrieben wird. Sie habe deshalb gewusst, dass eine entsprechende Äußerung im Wahlausschreiben falsch gewesen sei. Auch die Wahlniederschrift habe die kaufmännische Angestellte bewusst falsch erstellt. Sie habe gewusst, dass sie aufgrund des konkreten Wahlergebnisses nicht Mitglied des Betriebsrats geworden sei. Gleichwohl habe sie sich in der Wahlniederschrift als Betriebsratsmitglied bezeichnet.
Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzende habe die kaufmännische Angestellte darüber hinaus in einem erheblichen Ausmaß ohne hinreichenden Grund Freistellungen für sich und andere Betriebsratsmitglieder gegen Fortzahlung der Vergütung für vermeintliche Betriebsratstätigkeiten erlangt.
Ein Mitarbeiter der Arbeitgeberin habe in der Wahlniederschrift gefunden und erkannt, dass die kaufmännische Angestellte nach der Anzahl der auf sie entfallenden Stimmen gar kein reguläres Betriebsratsmitglied sein könne. Der entsprechende Fehler bei der Betriebsratswahl sei letztlich nur mit Täuschungsabsicht begründbar und die Wahl daher nichtig.
Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage in vollem Umfang statt. Die Arbeitgeberin legte Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein.
Sie argumentierte, der Kündigungsgrund der zweiten Kündigung sei unter anderem falscher Prozessvortrag gewesen. Die kaufmännische Angestellte habe bewusst falsch vorgetragen, die Fehler bei der Betriebsratswahl seien nicht ihr anzulasten, sondern dem Personalleiter. Sie habe damit den Vorteil gesucht, der ihr aus einer solchen Entlastung erwachsen wäre.
Das Landesarbeitsgericht entschied, die Berufung der Arbeitgeberin habe keinen Erfolg. Die nur noch in Streit stehende zweite Kündigung sei unwirksam und habe das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Die Berufung der Arbeitgeberin enthalte keine neuen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten.
Die Arbeitgeberin könne sich für die zweite Kündigung bereits deshalb nicht auf den der ersten Kündigung zugrunde liegenden Kündigungsgrund unter dem Gesichtspunkt der Vertiefung des Verdachts berufen, weil das Arbeitsgericht über die erste Kündigung rechtskräftig entschieden hat. Dagegen habe die Arbeitgeberin keine Berufung eingelegt. Somit habe das Arbeitsgericht rechtskräftig festgestellt, dass die dieser Kündigung zugrundeliegenden Kündigungsvorwürfe keine außerordentliche Kündigung rechtfertigen.
Es bestehe kein wichtiger Kündigungsgrund gemäß § 626 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch), da es an einem dringenden Tatverdacht zu der Behauptung fehle, die kaufmännische Angestellte habe entgegen besseren Wissens über die Auswirkungen des Wahlergebnisses getäuscht und sich so einen Sitz im Betriebsrat erschlichen.
Die Voraussetzungen eines Arbeitszeitbetruges hinsichtlich der nach § 37 BetrVG für Betriebsratsarbeit in Anspruch genommenen Freistellungen seien von der Arbeitgeberin nicht dargelegt worden. Zudem sei für beide Kündigungsgründe die Zwei-Wochen-Frist nach § 626 Absatz 2 BGB nicht eingehalten worden.
Die zweite Kündigung sei auch nicht mit der Begründung eines neuen falschen Prozessvortrags bzw. Prozessbetrugs gerechtfertigt. Die Arbeitgeberin könne sich bereits deshalb nicht auf diesen Kündigungsgrund berufen, weil sie die Kündigungserklärungsfrist von zwei Wochen gemäß § 626 Absatz 2 BGB nicht eingehalten hat. Die kaufmännische Angestellte habe den Vorwurf, die Fehler bei der Betriebsratswahl seien nicht ihr anzulasten, sondern dem Personalleiter, bereits mit ihrer Klageschrift vom 24.03.2020 erhoben.
Darüber hinaus sei die zweite Kündigung auch deshalb unwirksam, weil die Arbeitgeberin den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu den Kündigungsgründen nicht ordnungsgemäß nach § 102 Absatz 1 BetrVG angehört habe.
Sinn und Zweck der Anhörung bestehe darin, den Betriebsrat in die Lage zu versetzen, sachgerecht, d.h. ggf. zugunsten des Arbeitnehmers auf die Arbeitgeberin einzuwirken. Dabei habe die Arbeitgeberin die Pflicht, dem Betriebsrat den maßgeblichen Kündigungssachverhalt so umfassend mitzuteilen, dass der Betriebsrat ohne eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich über den Kündigungssachverhalt ein hinreichendes Bild zu machen. Die Arbeitgeberin genügt ihrer Mitteilungspflicht nicht, wenn sie den Kündigungssachverhalt nur pauschal, schlagwort- oder stichwortartig umschreibt oder lediglich ein Werturteil abgibt, ohne die für ihre Bewertung maßgeblichen Tatsachen mitzuteilen.
Hat die Arbeitnehmerin eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung in Zweifel gezogen, muss die Arbeitgeberin im Einzelnen die Tatsachen darlegen, aus denen sich die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats ergeben soll. Nach diesen Grundsätzen habe die Arbeitgeberin die von der kaufmännischen Angestellten bestrittene Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung, auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens, nicht hinreichend dargelegt.
Das Anhörungsschreiben enthalte keinerlei konkrete Darstellung eines neuen oder verstärkenden Fehlverhaltens der kaufmännischen Angestellten. Es bleibe völlig unklar, auf welches Fehlverhalten der kaufmännischen Angestellten sich die Arbeitgeberin damit berufen wolle.
Dem Betriebsratsvorsitzenden sei dargelegt worden, dass die kaufmännische Angestellte versuche, mit Lügen ihr Gerichtsverfahren zu gewinnen, und dass dies nicht hinnehmbar, sondern der Versuch eines Prozessbetruges sei. Dieser Sachvortrag sei, da er gerade nicht konkret benennt, um welche Lügen der kaufmännischen Angestellten es sich denn dabei gehandelt haben soll, unsubstantiiert und daher unbeachtlich.
Es fehle auch an einem wichtigen Kündigungsgrund. Der Arbeitgeberin wäre es nach der gebotenen Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile der Arbeitgeberin jedenfalls zumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis mit der kaufmännischen Angestellten bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen, wenn nicht sogar eine Abmahnung anstelle der Kündigung auszusprechen.
Aufgrund des übrigen von der Arbeitgeberin nicht im Einzelnen bestrittenen Vortrags der kaufmännischen Angestellten zum Ablauf der Betriebsratswahl 2018 ergebe sich ohne weiteres die verantwortliche Rolle des Personalleiters während des gesamten Wahlverfahrens. Damit trägt der Personalleiter ungeachtet, ob die der kaufmännischen Angestellten vorgeworfene Äußerung als falsch oder richtig anzusehen sei, mindestens eine erhebliche Mitverantwortung für die fehlerhafte Feststellung eines Betriebsratssitzes der kaufmännischen Angestellten nach den Vorschriften zum Minderheitengeschlecht nach § 5 der Wahlordnung zum Betriebsverfassungsgesetz.
Zu Gunsten der kaufmännischen Angestellten sei nicht zuletzt ihre langjährige, ungestörte Beschäftigung bei der Arbeitgeberin zu berücksichtigen.
Eine Revision zu diesem Urteil wurde nicht zugelassen.