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Abfindung als soziale Absicherung

Abfindung als schützenwertes Interesse

Sozialgericht Landshut, Urteil vom 18.07.2022, Aktenzeichen S 16 AL 135/20

Aus Gründen der sozialen Absicherung kann ein Arbeitnehmer auch dann ein besonderes, schützenswertes Interesse an einer höheren Abfindung haben, wenn diese die 10 %-Grenze nicht erreicht.

Ein gewerblicher Mitarbeiter schloss mit seiner Arbeitgeberin einen Aufhebungsvertrag. Darin war festgehalten, das Arbeitsverhältnis wird auf Veranlassung der Arbeitgeberin unter Einhaltung der maßgeblichen Kündigungsfrist einvernehmlich aus betriebsbedingten Gründen, mit dem Ablauf des März 2020, beendet. Als Ausgleich für den Verlust seines Arbeitsplatzes erhielt der gewerbliche Mitarbeiter nach Maßgabe und unter Anwendung des Sozialplans eine Abfindung in Höhe von 195.000 € brutto.

Am 27.02.2020 meldete sich der gewerbliche Mitarbeiter bei der Agentur für Arbeit mit Wirkung zum 01.04.2020 persönlich arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld, nachdem er sich bereits zuvor rechtzeitig arbeitsuchend gemeldet hatte. In einem Fragebogen zum Aufhebungsvertrag nahm er dahingehend Stellung, dass auch sein Arbeitsplatz von dem Arbeitsplatzabbau betroffen gewesen sei.

In der Arbeitsbescheinigung gab die Arbeitgeberin an, dass sie das Arbeitsverhältnis mit dem gewerblichen Mitarbeiter im Falle der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrages betriebsbedingt zum 31.03.2020 gekündigt hätte (kein vertragswidriges Verhalten des gewerblichen Mitarbeiters).

Auf Nachfrage der Agentur für Arbeit konkretisierte die Arbeitgeberin ihre Angaben zunächst dahingehend, dass eine konkrete Kündigung seitens der Arbeitgeberin aus betrieblichen, nicht verhaltensbedingten Gründen gedroht habe. Das Beschäftigungsverhältnis wäre demnach unter Einhaltung der Kündigungsfrist und Zahlung einer Abfindung zum selben Zeitpunkt beendet worden. Im Falle der Kündigung durch die Arbeitgeberin wäre die Sozialauswahl eingehalten worden.

Die Agentur für Arbeit informierte mit Schreiben vom Juni 2020, im Zeitraum von 1. bis 21. April sei eine Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe eingetreten. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld verringere sich um diesen Zeitraum. Arbeitslosengeld wurde ab 22. April bewilligt.

Der gewerbliche Mitarbeiter legte Widerspruch ein. Der Aufhebungsvertrag sei ausschließlich vor dem Hintergrund der Vermeidung einer betriebsbedingten Arbeitgeberkündigung und der interessensausgleichs- und sozialplanpflichtigen Restrukturierung (Personalanpassung) geschlossen worden.

Eine Vertreterin der Agentur für Arbeit habe erklärt, für den Fall des Abschlusses einer Aufhebungsvereinbarung im Zusammenhang mit der ausgesprochenen Personalanpassungsmaßnahme werde eine Sperrfrist nicht verhängt, wenn die Kündigungsfrist gewahrt bleibe, was unstreitig der Fall gewesen sei. Der gewerbliche Mitarbeiter habe auch im Vertrauen auf diese Zusage die ihm arbeitgeberseitig vorgelegte Aufhebungsvereinbarung unterzeichnet.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wandte sich die Arbeitgeberin unter Vorlage einer Kopie des Sozialplans an die Agentur für Arbeit und wies darauf hin, dass es sich um eine Massenentlassung gehandelt habe und auch die Agentur für Arbeit im Haus gewesen sei, um das Vorgehen zu besprechen.

Durch Abschluss des Aufhebungsvertrages habe der gewerbliche Mitarbeiter im Rahmen des sogenannten Freiwilligenprogramms eine um 15.000 € höhere Abfindung erhalten. Bei Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrages wäre das Arbeitsverhältnis mit dem gewerblichen Mitarbeiter seitens der Arbeitgeberin in jedem Fall unter Einhaltung des Sozialplans und der Sozialauswahl (rechtmäßige Kündigung) zum selben Zeitpunkt gekündigt worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.09.2020 wies die Agentur für Arbeit den Widerspruch als unbegründet zurück. Der gewerbliche Mitarbeiter habe die Arbeitslosigkeit zumindest grobfahrlässig herbeigeführt. Ein wichtiger Grund im Sinne der Sperrzeitvorschriften könne nicht anerkannt werden. Nach Angaben der Arbeitgeberin sei davon auszugehen, dass eine Arbeitgeberkündigung sozial gerechtfertigt gewesen wäre.

Zur Beurteilung eines wichtigen Grundes im Sinne der Sperrzeitvorschriften komme es darauf an, ob objektive Nachteile aus einer arbeitgeberseitigen Kündigung vorliegen. Diese seien anzunehmen, wenn bei Abschluss eines Aufhebungsvertrages eine Abfindung/Vergünstigung gezahlt werde, die um 10 % höher sei als bei einer Arbeitgeberkündigung. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall.

Die erhaltene Abfindung sei nicht um 10 % höher, als sie bei einer Arbeitgeberkündigung gewesen wäre. Es sei daher nach Abwägung der Interessen des gewerblichen Mitarbeiters mit den Interessen der Beitragszahler zumutbar gewesen, das Beschäftigungsverhältnis bis zu dem Tag fortzusetzen, an dem es auch ohne die Auflösung durch den gewerblichen Mitarbeiter geendet hätte.

Die Dauer der Sperrzeit betrage drei Wochen, weil das Arbeitsverhältnis ohnehin innerhalb von sechs Wochen nach dem Sperrzeitereignis ohne eine Sperrzeit geendet hätte.

Im Oktober 2020 hat der gewerbliche Mitarbeiter vor dem Sozialgericht Klage erhoben. Der Aufhebungsvertrag habe ausdrücklich auf den Sozialplan Bezug genommen. Im Vorfeld der Unterzeichnung des Aufhebungsvertrages habe eine Betriebsversammlung stattgefunden, an der auch eine Vertreterin der Agentur für Arbeit teilgenommen habe. Dabei sei ausdrücklich erklärt worden, dass für den Fall des Abschlusses einer Aufhebungsvereinbarung auf der Basis des Sozialplans eine Sperrfrist nicht verhängt werde, wenn die Kündigungsfrist gewahrt bleibe. Die Aufhebungsvereinbarung als solche habe weitere objektive Nachteile aus einer arbeitgeberseitigen Kündigung für das berufliche Fortkommen des gewerblichen Mitarbeiters vermieden.

Der gewerbliche Mitarbeiter beantragte, die Agentur für Arbeit unter Aufhebung des Sperrzeitbescheides zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 01.04.2020 bis 21.04.2020 zu zahlen.

Das Sozialgericht entschied, der gewerbliche Mitarbeiter hat Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld auch in der Zeit vom 01.04.2020 bis 21.04.2020.

Der gewerbliche Mitarbeiter hat am 01.04.2020 ein Stammrecht auf Arbeitslosengeld erworben. Die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit sind erfüllt. Der gewerbliche Mitarbeiter hat sich bei der Agentur für Arbeit zum 01.04.2020 persönlich arbeitslos gemeldet, er war arbeitslos und hat die Anwartschaftszeit erfüllt. Der Zahlungsanspruch auf Arbeitslosengeld hat nicht wegen des Eintritts einer Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe geruht, weil der gewerbliche Mitarbeiter einen wichtigen Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses hatte.

Versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 159 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III (Sozialgesetzbuch) vor, wenn die oder der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe).

Zwar hat der gewerbliche Mitarbeiter das Beschäftigungsverhältnis dadurch gelöst, dass er am 23.08.2019 mit seiner Arbeitgeberin einen Aufhebungsvertrag geschlossen hat. Er hat damit auch seine Arbeitslosigkeit ab dem 01.04.2020 zumindest grob fahrlässig herbeigeführt. Unerheblich ist, ob die Arbeitslosigkeit auch unabhängig vom Abschluss des Aufhebungsvertrages auf Grund einer ansonsten ausgesprochenen Arbeitgeberkündigung eingetreten wäre, weil es allein auf den tatsächlichen Geschehensablauf ankommt.

Auch lag keine verbindliche, schriftliche Zusicherung der Agentur für Arbeit gemäß § 34 SGB X vor, dass im Falle der Unterzeichnung des Aufhebungsvertrags durch den gewerblichen Mitarbeiter keine Sperrzeit festgestellt wird.

Jedoch hatte der gewerbliche Mitarbeiter zur Überzeugung der Kammer einen wichtigen Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses.

Über das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 159 Absatz 1 Satz 1 SGB III ist unter Berücksichtigung des Ziels der Sperrzeitregelung zu entscheiden. Diese soll die Versichertengemeinschaft vor Risikofällen schützen, deren Eintritt der Versicherte selbst zu vertreten hat.

Eine Sperrzeit soll nur eintreten, wenn dem Versicherten, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft, ein anderes Verhalten zugemutet werden kann.

Das Vorliegen eines wichtigen Grundes kommt insbesondere auch bei einer drohenden, rechtmäßigen Arbeitgeberkündigung zum selben Zeitpunkt in Betracht.

Ein wichtiger Grund ist dann zu bejahen, wenn die Arbeitgeberin mit einer nach Arbeitsrecht objektiv rechtmäßigen, betriebsbedingten Kündigung zu dem Zeitpunkt droht, zu dem das Arbeitsverhältnis gelöst wird, und dem Arbeitnehmer die Hinnahme dieser Kündigung nicht zuzumuten ist.

Dem gewerblichen Mitarbeiter wäre zum selben Zeitpunkt, nämlich zum 31.03.2020, von der Arbeitgeberin unter Einhaltung der maßgebenden Kündigungsfrist betriebsbedingt gekündigt worden, da der Arbeitsplatz des gewerblichen Mitarbeiters vom Abbau betroffen war.

Im Falle der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrages wäre die Kündigung, so die Angaben in der Arbeitsbescheinigung, ausgesprochen worden. Eine Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses über den 31.03.2020 hinaus wäre für den gewerblichen Mitarbeiter also in keinem Fall möglich gewesen.

Vorliegend ergeben sich keine Hinweise darauf, dass die drohende Arbeitgeberkündigung zum 31.03.2020 sozial ungerechtfertigt im Sinne des § 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) und damit rechtswidrig gewesen wäre.

Aufgrund der Restrukturierungsmaßnahme wurden am Standort des gewerblichen Mitarbeiters 155 Arbeitsplätze dauerhaft abgebaut, und der Arbeitsplatz des gewerblichen Mitarbeiters war hiervon betroffen. Auch ist nicht erkennbar, dass eine Weiterbeschäftigung des gewerblichen Mitarbeiters in dem Betrieb möglich gewesen wäre. Nach den glaubhaften und nachvollziehbaren Angaben der Arbeitgeberin hätte zudem die nach sozialen Gesichtspunkten durchzuführende Sozialauswahl (§ 1 Absatz 3 Satz 1 KSchG) der betriebsbedingten Kündigung nicht entgegengestanden. Der zum Zeitpunkt des Aufhebungsvertrages 51-jährige gewerbliche Mitarbeiter ist ledig und hat keine steuerrechtlich berücksichtigungsfähigen Kinder. Es sind keine Unterhaltspflichten ersichtlich, und es besteht keine Schwerbehinderung. Die Rechtmäßigkeit der drohenden Arbeitgeberkündigung wurde im Übrigen von der Agentur für Arbeit auch nicht angezweifelt.

Im Falle der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrages und des Abwartens der Kündigung hätte der gewerbliche Mitarbeiter eine um 15.000 € niedrigere Abfindung erhalten. Angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit ab dem 01.04.2020 und der Ungewissheit, ob und ab wann eine gleichwertige Anschlussbeschäftigung gefunden werden kann, ist das Interesse des gewerblichen Mitarbeiters schützenswert, zum Zwecke der sozialen Absicherung eine möglichst hohe Abfindung zu erhalten.

Ein gleichwertiges Interesse der Versichertengemeinschaft an einem Abwarten der Kündigung durch die Arbeitgeberin stand dem vorliegend nicht gegenüber. Das Ende der Beschäftigung bei seiner Arbeitgeberin zum 31.03.2020 war nicht mehr zu vermeiden. Der Arbeitsplatzwegfall und die Kündigung der Arbeitgeberin standen fest.

Weitere Möglichkeiten, den Eintritt des Versicherungsfalls zu vermeiden, standen dem gewerblichen Mitarbeiter nicht zur Verfügung. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit kann daher vom gewerblichen Mitarbeiter im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung nicht erwartet werden, auf den zusätzlichen Abfindungsbetrag in Höhe von 15.000 € zu verzichten, zumal er den Arbeitsplatzwegfall und damit den Anlass für den Risikofall der Arbeitslosigkeit nicht selbst zu vertreten hat.

Die höhere Abfindung ist vorliegend ein besonderes, schützenswertes Interesse, das ein Abwarten der Arbeitgeberkündigung unzumutbar werden lässt.

Eine starre 10 %-Grenze, wie sie die Agentur für Arbeit im vorliegenden Fall bei der Beurteilung des wichtigen Grundes angewandt hat, ergibt sich aus dem Gesetz nicht.

Eine Sperrzeit soll nur dann eintreten, wenn dem Versicherten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten zugemutet werden kann.

Ein Arbeitnehmer kann aus Gründen der sozialen Absicherung auch dann ein besonderes, schützenswertes Interesse an einer höheren Abfindung haben, wenn diese die 10 %-Grenze nicht erreicht (vorliegend war die Abfindung bei Abschluss des Aufhebungsvertrages nur um gut 8 % höher als im Fall der Kündigung durch die Arbeitgeberin).

Eine Berufung zu diesem Urteil wurde zugelassen.