BLOG RECHTSPRECHUNG

Wahlberechtigung eines Arbeitnehmers (Matrix-Führungskraft) in mehreren Betrieben eines Unternehmens

Landesarbeitsgericht Hessen (16. Kammer), Beschluss vom 22.01.2024, Aktenzeichen 16 TaBV 98/23

Amtliche Leitsätze:

  1. Gehören einem Unternehmen mehrere Betriebe an und wird ein Arbeitnehmer in mehreren Betrieben dieses Unternehmens eingesetzt, so erwirbt der Arbeitnehmer die Zugehörigkeit zu diesen Betrieben und ist dort wahlberechtigt.
  2. Für die Eingliederung in einen Betrieb ist eine Bindung an Weisungen einer Führungskraft in diesem Betrieb nicht erforderlich. Vielmehr liegt eine Eingliederung des Vorgesetzten in den Betrieb der ihm unterstellten Arbeitnehmer vor, da durch die Wahrnehmung der Führungsaufgaben auch der arbeitstechnische Zweck des Betriebs verwirklicht wird, in dem die ihm unterstellten Mitarbeiter tätig sind. Darauf, ob der Vorgesetzte über Befugnisse verfügt, die ihn zur Ermahnung, Abmahnung oder Kündigung von betriebszugehörigen Arbeitnehmern berechtigen, kommt es nicht an. Maßgeblich ist eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls. Nicht zwingend erforderlich ist, dass die Führungskraft ihre Tätigkeit auf dem Betriebsgelände oder innerhalb der Betriebsräume verrichtet, noch muss sie in einem bestimmten zeitlichen Mindestumfang “vor Ort” sein. Ist die Führungskraft in Wahrnehmung ihrer Aufgaben allerdings auch tatsächlich – partiell – im Betrieb anwesend, stellt dies ein gewichtiges Indiz für eine Eingliederung in die betrieblichen Arbeitsabläufe dar.
  3. Dieses Verständnis der Eingliederung in den Betrieb gilt nicht nur im Rahmen der personellen Mitbestimmung nach §§ BETRVG § 99ff BetrVG, sondern auch in Bezug auf die Wahlberechtigung nach §7 BetrVG.

Sachverhalt:

Im Streit steht die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl. Der Arbeitgeber betreibt 5 Betriebe, in denen jeweils ein Betriebsrat besteht. Wesentlicher Streitpunkt ist folgender:

Der Arbeitgeber übermittelte dem Wahlvorstand “Region Mitte” eine Liste mit insgesamt 899 wahlberechtigten Mitarbeitern. Am 25. April 2022 veröffentlichte der Wahlvorstand das Wahlausschreiben vom 21. April 2022. Die Wählerliste umfasste insgesamt 997 Wahlberechtigte, darunter 94 sogenannte Matrix-Führungskräfte. Obwohl diese grundsätzlich einem anderen Betrieb des Arbeitgebers angehören, leiten sie auch Arbeitnehmer des Betriebs “Region Mitte” in verschiedenen Bereichen, wie Business Assurance, Business Application und Consulting Services, Enterprise Platform Services, Sales und Service und Service Delivery. 

An der Betriebsratswahl nahmen 9 dieser Matrix-Führungskräfte teil. Eine Neun-Stimmen-Reduzierung auf Liste 1 hätte keine Auswirkung auf das Wahlergebnis gehabt. Hingegen hätte eine Neun-Stimmen-Reduzierung auf Liste 2 dazu geführt, dass Liste 1 ein zusätzliches Mandat erhalten hätte.

Nach der Veröffentlichung des Wahlergebnis wurde die Wahl durch den Arbeitgeber fristgerecht angefochten. Nach Auffassung des Arbeitgebers waren die Führungskräfte der Matrix-Organisation nicht in den Betrieb „Region Mitte” eingegliedert, sie waren insbesondere nicht berechtigt, Abmahnungen zu erteilen, Gehaltserhöhungen zu gewähren oder neue Aufgabenzuweisungen anzuordnen. Letztlich hätten sie keine Kompetenz, auf die Arbeitsabläufe der Betriebsregion Mitte Einfluss zu nehmen.

Hingegen argumentierte der Betriebsrat, dass die Matrix-Führungskräfte bereits aufgrund ihrer Befugnisse zur Weisungserteilung an die Mitarbeiter ihrer jeweiligen Teams im Regionalbetrieb Mitte integriert seien. Diese Weisungsbefugnisse des Arbeitgebers gegenüber den Mitarbeitern im Regionalbetrieb Mitte würden durch die direkten Matrix-Führungskräfte und den zuständigen HR-Manager über die Matrix-Führungskraft hin zu den Arbeitnehmern des Arbeitgebers nahtlos fortgesetzt. Die teildisziplinarischen Weisungsbefugnisse der Matrix-Führungskräfte würden im Rahmen des arbeitstechnischen Zwecks des Betriebs des Arbeitgebers ausgeübt. Obwohl die streitgegenständlichen Matrix-Führungskräfte keine Autorität bezüglich Kündigungen, Versetzungen oder Gehaltsfestsetzungen hätten, seien sie dennoch für Personalentwicklungsgespräche verantwortlich, genehmigten Urlaub, machten Vorschläge im Gehaltsüberprüfungsprozess, vereinbarten Ziele und führten Zielerreichungsgespräche. Daher hätten sie neben ihren fachlichen auch in einem nicht unerheblichen Maß disziplinarische Befugnisse gegenüber ihren Mitarbeitern im Regionalbetrieb Mitte. 

Das Arbeitsgericht hat der Wahlanfechtung entsprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats für begründet erklärt.

Die Wahlanfechtung des Arbeitgebers ist nicht begründet:

Gemäß § 19 Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) kann die Wahl des Betriebsrats vor dem Arbeitsgericht angefochten werden, wenn wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verletzt wurden und keine Korrektur vorgenommen wurde, es sei denn, dass der Verstoß das Wahlergebnis nicht verändert oder beeinflusst hat. Zu den wesentlichen Vorschriften über das Wahlrecht gehört gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 16. November 2011 (Az. 7 ABR 48/10, Rn.10) § 7 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes. Gemäß § 7 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes sind alle Arbeitnehmer des Betriebs wahlberechtigt, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Arbeitnehmer im Sinne des Gesetzes umfassen gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes Arbeiter und Angestellte einschließlich der Auszubildenden, unabhängig davon, ob sie im Betrieb, im Außendienst oder in Telearbeit beschäftigt sind.

Gemäß der etablierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und der allgemeinen Auffassung in der Fachliteratur basiert das Betriebsverfassungsgesetz auf dem allgemeinen Arbeitnehmerbegriff, den es in § 5 Absatz 1 Satz 1 definiert und in den folgenden Absätzen erweitert oder einschränkt. Danach gilt als Arbeitnehmer jede Person, die durch einen privatrechtlichen Vertrag verpflichtet ist, für einen anderen weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit zu leisten. Allerdings genügt allein das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zwischen einem Arbeitnehmer und dem Betriebsinhaber nicht immer, um zu beurteilen, dass der Arbeitnehmer auch im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes ein Arbeitnehmer “des Betriebs” ist. Vielmehr ist es erforderlich, dass der Arbeitnehmer betriebsverfassungsrechtlich einem bestimmten Betrieb zugeordnet ist. Dies setzt in der Regel voraus, dass der Arbeitnehmer in die Betriebsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert ist (BAG, Urteil vom 13. März 2013 – Az. 7 ABR 69/11, Rn. 22). Dabei ist es nicht entscheidend, ob der Arbeitnehmer seine Tätigkeit auf dem Betriebsgelände ausführt, sondern ob der Arbeitgeber durch den Einsatz des Arbeitnehmers den arbeitstechnischen Zweck seines Betriebs verfolgt (BAG, Urteil vom 5. Dezember 2012 – Az. 7 ABR 48/11, Rn. 18).

Wenn ein Unternehmen mehrere Betriebe besitzt und ein Arbeitnehmer in mehreren Betrieben dieses Unternehmens tätig ist, erwirbt dieser Arbeitnehmer die Zugehörigkeit zu diesen Betrieben und ist dort wahlberechtigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Bindung an einen Betrieb deutlich überwiegt (BAG 11.4.1958 – 1 ABR 2/57; LAG Köln 3.9.2007 – 14 TaBV 20/07, BeckRS 2008, 51325; LAG RhPf 24.8.2012 – 9 Sa 176/12, NZA-RR 2012, 636; Fitting, BetrVG, 31. Auflage, § 7 Rn. 83). Es ist vielmehr entscheidend, dass die Arbeitsleistung, die der Arbeitnehmer erbringt, den Zielsetzungen mehrerer Betriebe zuzuordnen ist und er dementsprechend in mehrere Betriebe eingegliedert ist (GK-BetrVG/Raab, 12. Auflage, § 7 Rn. 40, 53 am Ende).

Das BAG in seinem Urteil vom 22. Oktober 2019 – 1 ABR 13/18 – Rn. 19 festgestellt, dass für die Eingliederung in einen Betrieb keine Bindung an die Weisungen einer Führungskraft in diesem Betrieb erforderlich ist. Stattdessen liegt eine Eingliederung des Vorgesetzten in den Betrieb der ihm unterstellten Arbeitnehmer vor, da durch die Wahrnehmung der Führungsaufgaben auch der arbeitstechnische Zweck des Betriebs verwirklicht wird, in dem die ihm unterstellten Mitarbeiter tätig sind. Nur wenn ein in einem Betrieb tätiger Arbeitnehmer dem fachlichen Weisungsrecht eines in einem anderen Betrieb ansässigen Vorgesetzten untersteht, führt dies nicht zur Ausgliederung des Arbeitnehmers aus seinem bisherigen Beschäftigungsbetrieb und zur Eingliederung in den Beschäftigungsbetrieb des Vorgesetzten. Stattdessen liegt nach der Rechtsprechung des BAG in einem solchen Fall eine Einstellung im Sinne von § 99 BetrVG und damit eine Eingliederung des Vorgesetzten in den Betrieb der ihm unterstellten Arbeitnehmer vor, da durch die Wahrnehmung der Führungsaufgaben (auch) der arbeitstechnische Zweck des Betriebs verwirklicht wird, in dem die ihm unterstellten Mitarbeiter tätig sind (BAG 26. Mai 2021 – 7 ABR 17/20 – Rn. 43; 14. Juni 2022 – 1 ABR 13/21 – Rn. 19). Es kommt nicht darauf an, ob der Vorgesetzte über Befugnisse verfügt, die ihn zur Ermahnung, Abmahnung oder Kündigung von betriebszugehörigen Arbeitnehmern berechtigen (BAG 14. Juni 2022 – 1 ABR 13/21 – Rn. 23). Die Beurteilung, ob ein Arbeitnehmer des den Betrieb führenden Unternehmens, der zum Vorgesetzten bestellt wird, in den Betrieb der ihm jeweils unterstellten Arbeitnehmer eingegliedert wird, erfordert eine umfassende Bewertung aller relevanten Umstände des Einzelfalls. Dabei können die fachlichen Weisungsbefugnisse der Führungskraft berücksichtigt werden, sofern sich aus ihrer Wahrnehmung eine Einbindung bei der Erfüllung der im Betrieb von den dortigen Arbeitnehmern zu erledigenden operativen Aufgaben oder in die dortigen Arbeitsprozesse ergibt (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 1 ABR 13/21 – Rn.24). 

Dieses Verständnis der Eingliederung in den Betrieb gilt nicht nur im Rahmen der personellen Mitbestimmung nach § 99ff BetrVG, sondern auch in Bezug auf die Wahlberechtigung nach §7 BetrVG. Der Begriff der Eingliederung kann nur einheitlich verstanden werden. Zudem dient es der Rechtssicherheit, die Arbeitnehmer, hinsichtlich derer der aufnehmende Betriebsrat nach § 99 BetrVG beteiligt wurde, dort als wahlberechtigt nach § 7 BetrVG anzusehen. Auch die Argumentation des Arbeitgebers, Mitbestimmungsrechte könnten nur zusammen mit dem dortigen betrieblichen Arbeitgeber sinnvoll gelöst werden, in dem der jeweilige Arbeitnehmer tatsächlich seinen festen Arbeitsplatz habe, trifft nicht zu. Auch wenn die Matrix-Führungskraft nur gelegentlich vor Ort in dem Einsatzbetrieb der ihm nachgeordneten Mitarbeiter ist oder Führungsaufgaben im Wesentlichen per Videokonferenz wahrnimmt, kann sie dort von mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten des § 87 Abs. 1 Absatz 1 BetrVG betroffen sein, z.B. Nr. 1, 2, 6, 7. Es liegt auch kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip vor, wenn Arbeitnehmer in mehreren Betrieben, in die sie eingegliedert sind, wahlberechtigt sind. Sie haben dort jeweils nur eine Stimme. Eine Mehrfachrepräsentanz derselben Matrix-Führungskraft im Gesamtbetriebsrat erscheint möglich, ist aber wohl kaum praxisrelevant.

Daher sprechen aus Sicht des Landesarbeitsgerichts die besseren Argumente dafür, dass die Matrix-Führungskräfte, die in einen anderen Betrieb eingegliedert sind, auch dort wahlberechtigt sind.

Unter Anwendung dieser Prinzipien waren gemäß § 7 Satz 1 BetrVG die 9 Matrix-Führungskräfte, die an der umstrittenen Betriebsratswahl teilgenommen haben, wahlberechtigt. Dies ergibt sich aus der Gesamtwürdigung. Es steht außer Frage, dass sie fachlich Mitarbeiter des Betriebs “Region Mitte” leiten. Dadurch sind sie in die Durchführung der operativen Aufgaben und Arbeitsprozesse dieses Betriebs eingebunden, die von den dortigen Arbeitnehmern erledigt werden müssen. Der konkrete zeitliche und personelle Umfang ist nicht ausschlaggebend für die Eingliederung in den Betrieb. Entscheidend ist vielmehr, dass die Matrix-Führungskräfte tatsächlich Mitarbeiter dieses Betriebs leiten und somit den betrieblichen Zweck erfüllen. Der Arbeitgeber bestreitet nicht, dass die Matrix-Führungskräfte regelmäßig mit den Arbeitnehmern des Betriebs “Region Mitte” zusammenarbeiten und ihre fachlichen Weisungsbefugnisse ausüben. Ob dies durch persönliche Anwesenheit vor Ort oder online per Videokonferenz geschieht, ist nicht von Bedeutung, obwohl eine tatsächliche Präsenz im Betrieb ein wichtiges Indiz für die Eingliederung in die betrieblichen Abläufe darstellt. Das Vorhandensein von disziplinarischen Befugnissen gegenüber den Arbeitnehmern des Betriebs “Region Mitte” ist nicht relevant.