EuGH – Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 29.07.2024, Aktenzeichen C-184/22 und C-185/22
Zusammenfassung:
1. Es verstößt gegen § 4 Nr. 1, Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeit (Teilzeit-RL), Art. 157 AEUV sowie Art. 2 Abs. lit. b, Art. 4 Abs. 1 Gleichbehandlungs-RL, wenn eine nationale Regelung die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für jene Arbeitsstunden vorsieht, die über die regelmäßige Arbeitszeit von sich in einer vergleichbaren Lage befindenden vollzeitbeschäftigen Arbeitnehmer hinausgearbeitet werden.
2. Die Regelung lässt sich nicht damit rechtfertigen, dass sie den Arbeitgeber daran hindern soll, Überstunden anzuordnen, die über die in den individuellen Arbeitsverträgen festgelegte Arbeitszeit hinausgehen. Das Ziel ist, sicherzustellen, dass Vollzeitbeschäftigte nicht schlechter behandelt werden als Teilzeitbeschäftigte.
Sachverhalt:
In den beiden von BAG vorgelegten Ausgangsverfahren handelt es sich um einen Rechtsstreit zwischen einem Anbieter von Heimdialyse und Teilzeit beschäftigten Pflegekräften hinsichtlich der Zahlung von Überstundenzuschlägen. Die Pflegekräfte sind in Teilzeit mit einer Beschäftigungsquote von 40% bzw. 80% tätig, wobei die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 38,5 Stunden beträgt. Die Klägerinnen sind der Meinung, dass die Beklagte gemäß § 10 Nr. 7 MTV verpflichtet ist, ihnen für geleistete Überstunden einen Zuschlag zu gewähren oder in ihren Arbeitszeitkonten eine entsprechende Zeitgutschrift vorzunehmen. Ferner fordern sie eine Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG. § 10 Nr. 7 MTV sieht jedoch die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur für Arbeitsstunden vor, die die kalendermonatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers überschreiten.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, während das Landesarbeitsgericht die Beklagte zu Zeitgutschriften verurteilte, die Klage auf Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG jedoch ebenfalls abwies.
Das BAG hat beide Verfahren dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Entscheidung:
Das BAG stellt dem EuGH mehrere Fragen zu einem möglichen Verstoß der tarifvertraglichen Bestimmungen gegen Art. 157 AEUV, Art. 2 Abs. 1 lit. b der Gleichbehandlungsrichtlinie, Art. 4 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie sowie gegen § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeit (Teilzeitrichtlinie). Der EuGH untersucht zunächst einen möglichen Verstoß gegen § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung. Diese Rahmenvereinbarung hat das Ziel, Ungleichheiten zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu beseitigen, und stellt somit einen Grundsatz des Unionsrechts dar, der nicht restriktiv ausgelegt werden darf.
Der EuGH stellt fest, dass eine teilzeitbeschäftigte Pflegekraft die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden aufbringen muss wie eine vollzeitbeschäftigte Pflegekraft, um Anspruch auf Überstundenzuschläge zu haben, und zwar unabhängig von der individuell im Arbeitsvertrag festgelegten regelmäßigen Arbeitszeit. Für teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte wird demnach eine Anzahl an Arbeitsstunden benötigt, die nicht oder nur mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann als bei vollzeitbeschäftigten Pflegekräften. Die Festlegung einer einheitlichen Mindestanforderung für Überstundenzuschläge stellt somit eine größere Belastung für teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte dar. Während die vollzeitbeschäftigte Pflegekraft bereits für die erste Überstunde den Zuschlag erhält, trifft dies auf die teilzeitbeschäftigte Pflegekraft nicht zu. Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt und bietet den Arbeitgebern einen Anreiz, Überstunden eher bei Teilzeitbeschäftigten anzuordnen.
Zusätzlich liegt eine mittelbare Diskriminierung von Frauen gemäß Art. 157 Abs. 1 AEUV und Art. 4 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie vor. Die Beklagte im Ausgangsverfahren beschäftigt etwa 5.000 Personen, von denen rund 77 % Frauen sind. 52,78 % der Arbeitnehmer arbeiten in Teilzeit, wobei 84,74 % dieser Teilzeitbeschäftigten Frauen und 15,26 % Männer sind. Bei den Vollzeitbeschäftigten sind 68,20 % Frauen und 31,80 % Männer. Somit sind weibliche Arbeitnehmer sowohl unter den Teilzeit- als auch unter den Vollzeitbeschäftigten in der Mehrheit. Für die Feststellung einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung ist jedoch nicht erforderlich, dass der Männeranteil unter den Vollzeitbeschäftigten signifikant höher ist als der der Frauen. Es reicht aus, wenn eine Regelung innerhalb der Gruppe der teilzeitbeschäftigten Mitarbeiter faktisch zu Lasten von Frauen wirkt.