Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Beschluss vom 04.02.2025, Aktenzeichen 10 TaBV 40/24
Amtliche Leitsätze:
- Zur Anfechtung betriebsratsinterner Wahlen ist jedes einzelne Betriebsratsmitglied berechtigt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es durch den Ausgang der Wahl persönlich betroffen ist.
- Die Anfechtungsfrist beträgt in entsprechender Anwendung von § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG zwei Wochen.
- Die freizustellenden Betriebsratsmitglieder werden vom Betriebsrat aus seiner Mitte nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Der Sinn der Verhältniswahl ist der Schutz von Minderheiten. Es soll möglichst erreicht werden, dass keine Stimme verloren geht, dass also einem bestimmten Anteil an der Stimmenzahl ein entsprechender Anteil von Gewählten entspricht. Weil der Minderheitenschutz nicht erforderlich ist, wenn nur ein Wahlvorschlag gemacht wird, erfolgt – nur – in einem solchen Fall die Wahl nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl.
- Wird die Anzahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder während der Amtszeit des Betriebsrats erhöht, so erfordert dies eine Neuwahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder, wenn die Freistellungswahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchgeführt wurde. Das zusätzlich freizustellende Betriebsratsmitglied kann weder aus dem Kreis vorhandener Ersatzmitglieder in die Freistellung nachrücken noch ist eine isolierte Neuwahl des zusätzlich freizustellenden Betriebsratsmitglieds nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl zulässig.
- Nichts anderes kann gelten, wenn zunächst in Verkennung der Betriebsgröße nur ein freizustellendes Betriebsratsmitglied gewählt wurde, obwohl deren zwei hätten gewählt werden müssen. Erfolgt zur Behebung des Fehlers eine Neuwahl, so sind beide freizustellenden Mitglieder zu wählen, und zwar bei mehreren Wahlvorschlägen im Wege der Verhältniswahl. Anderenfalls würde der mit der Verhältniswahl bezweckte Minderheitenschutz unterlaufen.
Gegenstand des Verfahrens ist die Anfechtung der Wahl eines freizustellenden Betriebsratsmitglieds.
Die Beteiligten zu 1. (Antragsteller) und 4. sind Mitglieder des Betriebsrats, der als Beteiligter zu 2. in einem Betrieb der Beteiligten zu 3. (Arbeitgeberin) tätig ist.
Nachdem der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter zuvor regelmäßig ohne Wahl von ihren beruflichen Tätigkeiten freigestellt waren, wählte der Betriebsrat am 12. Dezember 2023 auf Hinweis der Personalabteilung, dass eine Wahl erforderlich sei, seinen Vorsitzenden als einziges freizustellendes Mitglied. An diesem Tag betrug die Anzahl der Stammarbeitnehmer im Betrieb 464, ergänzt durch 53 regelmäßig beschäftigte Leiharbeitnehmer.
Nachdem der Betriebsrat zu dem Schluss gekommen war, dass aufgrund einer Zunahme der regelmäßig Beschäftigten ein weiteres freizustellendes Mitglied gewählt werden müsse, fand am 8. Januar 2024 die umstrittene Wahl im Rahmen einer Verhältniswahl statt. Zu diesem Zeitpunkt waren im Betrieb 465 Stammarbeitnehmer und 54 Zeitarbeitnehmer beschäftigt.
Bei dieser Wahl erhielt die Liste „Frischer Wind“, auf der der Beteiligte zu 4 kandidierte, sechs Stimmen, während die Liste „IGM“, auf der sich der Antragsteller zur Wahl stellte, vier Stimmen erhielt; eine Stimme war ungültig.
Der Beteiligte zu 4 wurde daraufhin freigestellt.
Am 22. Januar 2024 reichten der Antragsteller und ein weiteres, inzwischen aus dem Betrieb ausgeschiedenes Betriebsratsmitglied einen Antrag beim Arbeitsgericht ein, in dem sie die Wahl vom 8. Januar 2024 anfochten. Sie argumentierten, dass im Rahmen einer Verhältniswahl eine Neuwahl beider freizustellender Betriebsratsmitglieder hätte stattfinden müssen. Der Antragsteller beantragte die Feststellung, dass die Wahl des Betriebsratsmitglieds G. vom 8. Januar 2024 als freigestelltes Mitglied unwirksam sei. Der Betriebsrat beantragte hingegen, den Antrag zurückzuweisen. Die Arbeitgeberin stellte keinen eigenen Antrag.
Der Betriebsrat hat behauptet, bei der Wahl am 12. Dezember 2023 von 489 Beschäftigten im Betrieb ausgegangen zu sein. Er führte an, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass die Zahl zum Jahresende unter 500 falle und er keine anderen Erfassungsdaten kannte. Die Wahl wurde als Mehrheitswahl durchgeführt. Der Betriebsrat vertrat die Auffassung, dass aufgrund der Wahl nur eines freizustellenden Betriebsratsmitglieds im Dezember 2023 der Minderheitenschutz nicht relevant gewesen sei. Dieser könne auch nicht nachträglich entstehen und dürfe nicht über das Maß der ersten Wahl hinausgehen.
Das Arbeitsgericht gab dem Antrag statt und begründete dies damit, dass die Anfechtung form- und fristgerecht erfolgt sei. Zudem sei sie begründet, da wesentliche Vorschriften des Wahlverfahrens verletzt worden seien: Es hätte eine Neuwahl beider freizustellender Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl stattfinden müssen. Der Minderheitenschutz sei unabhängig von der Art der ersten Wahl zu beachten. Darüber hinaus habe kein objektiver Sachverhalt vorgelegen, der die Wahl eines zusätzlichen freizustellenden Mitglieds gerechtfertigt hätte; der Schwellenwert für die Freistellung von zwei Mitgliedern sei bereits bei der ersten Wahl überschritten worden.
Mit einer isolierten „Nachwahl“ trotz unveränderter Betriebsgröße werde der Minderheitenschutz umgangen. Dass die ursprüngliche Wahl nicht angefochten wurde, mache deren Ergebnis nicht unwiderruflich; das Gesetz sehe die Möglichkeit einer Abberufung vor. Es sei nicht auszuschließen, dass das Wahlergebnis ohne den Verstoß anders ausgefallen wäre.
Gegen den Beschluss des Gerichts legte der Betriebsrat Beschwerde ein und führte in seiner Beschwerdeschrift aus, dass das Arbeitsgericht nicht offenlassen dürfe, auf welche Weise die erste Wahl durchgeführt worden sei; es habe sich um eine Mehrheitswahl gehandelt, weshalb auch die umstrittene Wahl als solche hätte erfolgen dürfen. Er wies darauf hin, dass sie im Übrigen als Verhältniswahl durchgeführt worden sei und das Ergebnis der ersten Wahl den Minderheitenschutz überwiege und einer zwingenden Neuwahl beider freizustellender Mitglieder entgegenstehe.
Er argumentierte weiter, dass es irrelevant sei, dass das Gesetz eine Abberufung aus der Freistellung ermögliche; diese bedürfe eines Beschlusses des Betriebsrats. Die Auffassung des Arbeitsgerichts führe dazu, dass die Entscheidung der Betriebsratsmitglieder in der ersten Wahl durch die zweite Wahl „aufgehoben“ werde. Der Minderheitenschutz komme zudem nicht zur Anwendung, da die Liste „IGM“ die meisten Betriebsratsmitglieder stelle; folglich benötige der Antragsteller keinen Minderheitenschutz, was Fragen zu seiner Antragsbefugnis aufwerfe.
Der Antragsteller hingegen verteidigte den angefochtenen Beschluss und führt insbesondere aus, dass der er antragsbefugt sei. Eine persönliche Betroffenheit sei dafür zum einen nicht erforderlich und liege zum anderen vor. Der Antrag sei zudem begründet, da wesentliche Wahlgrundsätze verletzt worden seien. Es hätte eine Neuwahl beider freizustellender Mitglieder stattfinden müssen.
Wenn die Gruppierung im Betriebsrat, die bei der Wahl der freizustellenden Mitglieder die Mehrheit hat, erreichen wolle, dass ihr gewählter Kandidat erneut gewählt wird, müsse sie ihn lediglich an die erste Stelle des Wahlvorschlags setzen. Sollte jedoch bei der zweiten Wahl – unabhängig davon, ob sie als Mehrheits- oder Verhältniswahl durchgeführt wird – erneut nur eine Person gewählt werden, so würde auch diese Freistellung an die Gruppierung gehen, die im Betriebsrat die Mehrheit stellt. Dies stehe im Widerspruch zum Minderheitenschutz, der unabhängig von der jeweiligen Gruppierung in der Minderheit gelte.
Darüber hinaus seien im Gegensatz zur verfahrensgegenständlichen Wahl bei der Betriebsratswahl nicht nur zwei konkurrierende Listen, sondern insgesamt sechs angetreten. Die Liste „IGM“ habe bei beiden Wahlen der freizustellenden Mitglieder in der Minderheit gelegen.
Das LAG Niedersachsen hat die zulässige Beschwerde des Betriebsrats als unbegründet zurückgewiesen. Die Argumente der Beschwerde rechtfertigen aus seiner Sicht keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Auch aus Sicht des LAG Niedersachsens ist der Antrag zulässig und begründet. Das Ausscheiden eines der Antragsteller aus dem Betrieb und damit aus dem Verfahren steht dem nicht entgegen. Jedes Betriebsratsmitglied hat das Recht, betriebsratsinterne Wahlen anzufechten, unabhängig davon, ob es durch das Wahlergebnis persönlich betroffen ist. In einem Wahlanfechtungsverfahren ergibt sich die Antragsbefugnis direkt aus der Berechtigung zur Anfechtung; ein gesondertes Rechtsschutzinteresse ist nicht erforderlich. Die zweiwöchige Anfechtungsfrist gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG wurde eingehalten. Aus Sicht des LAG Niedersachsens hat das erstinstanzliche Arbeitsgericht zu Recht festgestellt, dass eine Wahl beider freizustellender Betriebsratsmitglieder hätte stattfinden müssen. Eine isolierte Wahl nur eines weiteren freizustellenden Mitglieds entspricht nicht den Anforderungen des Minderheitenschutzes.
Nach § 38 Abs. 2 BetrVG werden die freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach Beratung mit dem Arbeitgeber vom Betriebsrat in geheimer Wahl und gemäß den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Ziel der Verhältniswahl ist es, Minderheiten zu schützen und sicherzustellen, dass keine Stimme verloren geht; ein bestimmter Stimmenanteil soll einem entsprechenden Anteil an Gewählten entsprechen.
Wenn während der Amtszeit des Betriebsrats die Anzahl der freizustellenden Mitglieder erhöht wird, muss eine Neuwahl aller freizustellenden Mitglieder stattfinden, sofern die ursprüngliche Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchgeführt wurde. Ein zusätzlich freizustellendes Mitglied kann weder analog zu § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG aus dem Kreis der Ersatzmitglieder in die Freistellung nachrücken noch ist eine isolierte Neuwahl des zusätzlichen Mitglieds nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl.
Unabhängig davon, ob die Wahl am 12. Dezember 2023 als Mehrheits- oder Verhältniswahl durchgeführt wurde, hielt das LAG Niedersachsen fest: Es hätten beide freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden müssen. Laut Auszählungsergebnis reichten zwei Gruppierungen Wahlvorschläge ein: „Liste ‚IG Metall‘“ und „Liste ‚Frischer Wind‘“. Bei mehr als einem Wahlvorschlag muss die Wahl gemäß § 38 Abs. 2 Satz1 BetrVG nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgen.
Darüber hinaus hätten bereits damals zwei freizustellende Betriebsratsmitglieder gewählt werden müssen, da mit insgesamt 464 Stammarbeitnehmern und weiteren regelmäßig beschäftigten Leiharbeitnehmern die Betriebsgröße über der Grenze von 500 Arbeitnehmern lag (§ 38 Abs.1 Satz1 BetrVG).
Daraus folgt, dass bei der zur Entscheidung stehenden Wahl im Rahmen einer Verhältniswahl beide freizustellenden Mitglieder hätten gewählt werden müssen. Selbst wenn jedoch eine Mehrheitswahl durchgeführt worden sein sollte, würde dies nach Meinung des LAG Niedersachsen nicht zu einem anderen Ergebnis führen: Der Betriebsrat hätte dann gegen wesentliche Wahlgrundsätze verstoßen und könnte daher nicht einfach eine isolierte Wahl nur eines freizustellenden Mitglieds durchführen lassen; dies würde den mit der Verhältniswahl angestrebten Minderheitenschutz untergraben.
Da die Zusammensetzung einer Wahlvorschlagsliste entscheidend von der Anzahl der zu wählenden Mitglieder abhängt, wird bei einer späteren Erhöhung der Zahl freizustellender Betriebsratsmitglieder die Grundlage des ursprünglichen Wahlvorschlags entzogen; daher ist es erforderlich, bei einer Erhöhung von Freistellungen – anders als beim Ausscheiden eines einzelnen freigestellten Mitglieds – alle freizustellenden Mitglieder neu nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen.