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Sozialplan auch nach Betriebsänderung möglich

Einsatz einer Einigungsstelle anlässlich einer Betriebsstilllegung

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 27.07.2020, Aktenzeichen 9 TaBV 27/20

Der Einsatz einer Einigungsstelle zum Abschluss eines Sozialplans kann auch noch nach einer Betriebsstilllegung erfolgen.

In einer Betriebsratsanhörung erklärte die Arbeitgeberin am 17. April 2020 gegenüber dem Betriebsrat, sie habe am Vortag die unternehmerische Entscheidung zur Betriebsstilllegung wegen ausbleibender Projekte und Erträge getroffen. Sie beabsichtige die Gesellschaft ab Ende April 2020 zunächst ohne Personal fortzuführen und später abzuwickeln. Sie beabsichtige die Kündigung aller bestehenden Arbeitsverhältnisse.

Am 24. April 2020 forderte der Betriebsrat die Arbeitgeberin vergeblich zur Aufnahme von Sozialplanverhandlungen auf.

Mit Beschluss vom 30.04.2020 erklärte der Betriebsrat die Verhandlungen zum Abschluss eines Sozialplans für gescheitert und beschloss die Anrufung der Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand „Abschluss eines Sozialplans anlässlich der arbeitgeberseitig geplanten Betriebsstilllegung“.

Der Betriebsrat berief sich darauf, dass die Arbeitnehmerin in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt. Zum Zeitpunkt der Betriebsratswahl 2019 seien 27 Arbeitnehmer in der Wahlliste aufgeführt gewesen.

Die Arbeitgeberin vertrat die Auffassung, sie sei nicht zum Abschluss eines Sozialplans verpflichtet, da zum Zeitpunkt der Stilllegungsentscheidung nicht mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigt gewesen seien.

Im Mai 2020 hat das Arbeitsgericht einen Vorsitzenden für die Einigungsstelle mit jeweils zwei Beisitzern benannt. Die Einigungsstelle sei nicht offensichtlich unzuständig, weil die Arbeitgeberin unter 20 Mitarbeiter beschäftige. Für die Beurteilung der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer sei eine Gesamtschau vorzunehmen. Eine regelmäßige Personalstärke von mehr als 20 wahlberechtigten Mitarbeitern sei kennzeichnend für den Betrieb der Arbeitgeberin.

Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats sei nach den §§ 112, 112a BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) zum Abschluss eines Sozialplans gegeben, erklärte das Arbeitsgericht, auch wenn die Betriebsänderung bereits durchgeführt worden sei. Bestehende Ansprüche der Arbeitnehmer auf einen Nachteilsausgleich nach § 113 Absatz 3 BetrVG ließen die Verpflichtung zum Abschluss des Sozialplans nicht entfallen.

Gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts legte die Arbeitgeberin Beschwerde beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Der Abschluss eines Sozialplans nach einer durchgeführten Betriebsänderung sei ausgeschlossen. Die Mitbestimmung des Betriebsrats bezüglich eines Sozialplans betreffe nur eine beabsichtigte, in der Zukunft liegende Betriebsänderung. Zudem beschäftige sie in der Regel nicht mehr als 20 Mitarbeiter. Im gesamten Jahr 2018 habe sie unter 20 Mitarbeiter beschäftigt. Sie beschäftigte erstmals im Jahr 2019 mehr als 20 Arbeitnehmer. Die Geschäftsführung habe dann feststellen müssen, dass solch eine Belegschaftsstärke finanziell nicht tragbar sei. In der Folgezeit habe es sieben arbeitnehmerseitige Kündigungen gegeben. Neueinstellungen seien nicht erfolgt. Ende März 2020 habe eine Personalstärke von 19 Mitarbeiter bestanden.

Der Betriebsrat argumentierte, die Personalstärke umfasste im gesamten Jahr 2019 bis einschließlich März 2020 mindestens 21 Arbeitnehmer. Ein Sozialplan könne auch noch nach einer Betriebsänderung erzwungen werden. Der Betriebsrat habe dafür ein Restmandat.

Das Landesarbeitsgericht entschied, die Beschwerde der Arbeitgeberin sei unbegründet.  Das Arbeitsgericht habe zu Recht erkannt, dass die Einigungsstelle für die Aufstellung eines Sozialplans nicht offensichtlich unzuständig sei. Die Einigungsstelle entscheidet in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern über die Aufstellung eines Sozialplans, wenn sich Arbeitgeberin und Betriebsrat hierüber nicht einigen können.

Zu Recht habe das Arbeitsgericht anerkannt, dass im Unternehmen der Arbeitgeberin in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt waren. Eine Zuständigkeit der Einigungsstelle wäre nur dann nicht gegeben, wenn dieser Wert offensichtlich nicht erreicht würde.

Es sei nicht entscheidend, wieviel Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Stilllegungsbeschlusses zufällig gerade beschäftigt waren. Bedeutsam sei die Personalstärke, die für den Betrieb kennzeichnend sei. Ist der Betriebsstillegung in kurz aufeinanderfolgenden Schritten ein kontinuierlicher Abbau der Belegschaft unmittelbar vorangegangen, so bleibt dieser für den Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke unbeachtlich, weil der Personalabbau dann lediglich als gleitender Übergang von der normalen Arbeitnehmerzahl zur völligen Stilllegung zu betrachten ist.

Auch nach Darlegung der Arbeitgeberin waren zumindest im Jahr 2019 mehr als zwanzig wahlberechtigte Arbeitnehmer bei ihr beschäftigt. Angesichts dessen sei es nicht offensichtlich falsch, die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer bei mehr als zwanzig anzunehmen und die Wachstumsphase in den Jahren zuvor nicht in die Rückschau einzubeziehen.

Dass die Arbeitgeberin die durch Eigenkündigungen frei gewordenen Arbeitsplätze nicht neu besetzt hatte, deute angesichts des kurzen Zeitraums bis zur Stilllegungsentscheidung eher darauf hin,  dass die Verringerung der Personalstärke als gleitender Übergang von der normalen Arbeitnehmerzahl bis zu der Stilllegung zu betrachten sei.

Die Mitbestimmung solle grundsätzlich stattfinden bevor die Betriebsänderung durchgeführt ist. Gleichwohl könne ein Sozialplan auch noch nach Durchführung der Betriebsänderung geschlossen werden.

Bereits aus der Gestaltung des Mitbestimmungsverfahrens ergebe sich, dass ein Sozialplan auch dann noch aufgestellt werden kann, wenn der Unternehmer die Betriebsänderung berechtigterweise durchgeführt hatte, weil ein Interessenausgleich bereits zustande gekommen oder der Einigungsversuch über den Interessenausgleich vor der Einigungsstelle gescheitert war. In diesen Fällen könne ein Spruch über die Aufstellung des Sozialplans möglicherweise erst dann erfolgen, wenn die geplante Betriebsänderung bereits durchgeführt worden ist.

Wird der Betriebsrat überhaupt nicht beteiligt, gelten die gleichen Voraussetzungen, da sonst der Unternehmer durch vollendete Tatsachen dem Betriebsrat das Beteiligungsrecht entziehen würde. Ein derartiger Entzug des Beteiligungsrechtes widerspräche dem sozialen Schutzgedanken und dem Willen des Gesetzgebers, dem Betriebsrat ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei der Aufstellung eines Sozialplans einzuräumen.

Die Arbeitgeberin werde mit der Pflicht einen Sozialplan für eine bereits durchgeführte Betriebsänderung trotz etwa bestehender Nachteilsausgleichsansprüche aufzustellen, nicht über Gebühr belastet. Abfindungen aufgrund eines Sozialplans und aufgrund eines gesetzlichen Nachteilsausgleichs seien im Wege der Erfüllungswirkung gemäß § 362 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) verrechenbar. Der Nachteilsausgleich solle zwar ein betriebsverfassungswidriges Verhalten des Arbeitgebers sanktionieren. Das Entstehen eines solchen Anspruchs setzte jedoch voraus, dass der Arbeitnehmer infolge der ohne Beachtung der Mitbestimmung des Betriebsrats durchgeführten Maßnahme wirtschaftliche Nachteile erleidet. Dies rechtfertigt die Verrechenbarkeit beider Ansprüche, ohne dass der von § 113 Absatz 3 BetrVG verfolgte Sanktionszweck dadurch aufgehoben würde.

Wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt habe, handele es sich bei dem zum Vorsitzenden der Einigungsstelle Bestellten um einen qualifizierten Richter und erfahrenen Einigungsstellenvorsitzenden. Die Zahl von zwei Beisitzern für jede Seite trage sowohl der verhältnismäßig geringen Größe des stillgelegten Betriebs als auch der erheblichen Bedeutung der Angelegenheit für Unternehmen und Belegschaft angemessen Rechnung.

Gegen die Entscheidung wurde kein Rechtsmittel zugelassen.