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Wann gilt ein Unternehmen als “beherrschend”?

Beherrschendes Unternehmen

 Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.12.2018, Aktenzeichen 10 Sa 284/16 und 10 Sa 921/16

Ermöglicht eine rechtliche Verbindung beliebiger Art einem Unternehmen einen bestimmenden Einfluss auf ein anderes Unternehmen und ermöglicht die rechtliche Verbindung, Massenentlassungen in Betracht zu ziehen oder vorzunehmen, handelt es sich um ein beherrschendes Unternehmen.

Eine Mitarbeiterin war im Bereich Fluggastabfertigung seit 1988 tätig und zugleich freigestelltes Betriebsratsmitglied. Die Arbeitgeberin erbrachte sämtliche Vorfeld – und Passagedienstleistungen an zwei Berliner Flughäfen. Das Unternehmen der Arbeitgeberin wurde im Jahr 2008 durch die W-Gruppe erworben.

In den Jahren 2011/2012 erfolgte eine rechtliche und organisatorische Trennung der verschiedenen Geschäftsbereiche der ehemaligen Arbeitgeberin in Passagierabfertigung, Vorfeld, Verwaltung und Werkstatt. Während die Verwaltung im alten Unternehmen verblieb, wurden die anderen Bereiche von anderen Unternehmen der W-Gruppe fortgeführt. Die betreffenden Arbeitsverhältnisse gingen im Wege des Betriebsübergangs auf die neue Arbeitgeberin über, die nun lediglich den Bereich Passage bzw. Passagierabfertigung in ihrem Betrieb fortführte. Darunter auch das Arbeitsverhältnis der Fluggastabfertigerin. Im Jahr 2014 spaltete die neue Arbeitgeberin ihren Betrieb in zwei Betriebsteile, die jeweils einem der beiden internationalen Flughäfen „Berlin-Brandenburg“ zugeordnet waren.

Der Bereich Passagierabfertigung des Flughafens S ging auf eine neu gegründete Gesellschaft über. Spätestens Ende 2013 beschäftigte das Unternehmen der ehemaligen Arbeitgeberin keine Arbeitnehmer mehr.

Einzige Auftraggeberin und Kommanditistin und in der Gesellschafterversammlung alleinig bestimmend für das neue Unternehmen war das Unternehmen der ehemaligen Arbeitgeberin. Deren Kommanditanteile wurden von einem Unternehmen der W-Gruppe gehalten. Dessen Komplementärin war eine GmbH, deren Gesellschafter durch drei natürliche Personen präsentiert sind, zwei davon Rechtsanwälte. Die beklagte Arbeitgeberin gehörte deshalb rechtlich nicht zu einem Konzern. Nach einem während der Berufungsverhandlung von der Arbeitgeberin bestrittenen Vortrag seien die natürlichen Personen durch Treuhandverträge verpflichtet gewesen, ihre Gesellschafterstellung auf Anweisung und im Sinne der W-Gruppe zu erbringen.

Im September 2013 traten für die Flughäfen in Berlin und Brandenburg allgemeinverbindliche Tarifverträge für Bodenverkehrsdienstleistungen mit deutlich niedrigeren Tarifen als vorher in Kraft. Für die von der ehemaligen Arbeitgeberin übernommenen Altbeschäftigten vereinbarte die neue Arbeitgeberin einen Überleitungstarifvertrag, der einen Ausgleich der Differenzvergütung über eine Besitzstandszulage vorsah.

Im September 2014 kündigte die ehemalige Arbeitgeberin sämtliche der neuen Arbeitgeberin erteilten Aufträge spätestens zum 31. März 2015. Die Gesellschafterversammlung der beklagten Arbeitgeberin wies daraufhin den Geschäftsführer der Komplementärin an, alle zur Vorbereitung einer Betriebsstilllegung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die ehemalige Arbeitgeberin vergab die gekündigten Aufträge, soweit sie weiter ausgeführt wurden, an andere, überwiegend der sog. W.-Gruppe zugehörige Gesellschaften.

Nach ergebnislosen Verhandlungen über einen Interessenausgleich vereinbarten die Betriebsparteien in einem gerichtlichen Vergleich die Einsetzung einer Einigungsstelle über den Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans. In der Einigungsstellensitzung am 18. Dezember 2014 erklärten ihre Vertreter die Interessenausgleichsverhandlungen für gescheitert.

Den Forderungen des Betriebsrats, Unterlagen der konzerninternen Kalkulation, bezüglich der Aufträge gegenüber den Flughäfen, offenzulegen, kam die Arbeitgeberin nicht nach. Ebenso beanstandete der Betriebsrat das Fehlen von Informationen zu den wirtschaftlichen und sozialen Gründen für die beabsichtigte Betriebsänderung.

Nach weiteren Verhandlungen beschloss die Einigungsstelle am 21. Januar 2015 mit Stimmenmehrheit einen Sozialplan sowie die Einrichtung einer Transfergesellschaft. Die Gesellschafterversammlung der beklagten Arbeitgeberin entschied am 20. Januar 2015, den Betrieb zum 31. März 2015 stillzulegen. Die beklagte Arbeitgeberin erstattete am 28. Januar 2015 inhaltsgleiche Massenentlassungsanzeigen bei den Agenturen für Arbeit in Cottbus und Berlin.

Die beklagte Arbeitgeberin erklärte anschließend im Januar und Februar 2015 nach Anhörung des Betriebsrats die ordentliche Kündigung aller Arbeitsverhältnisse. Dasjenige der Mitarbeiterin kündigte sie am 29. Januar 2015 zum 31. August 2015.

Nachdem mehrere Kammern des Arbeitsgerichts die Kündigungen dieser ersten “Welle” unter Hinweis auf Mängel im Verfahren nach § 17 KSchG für nichtig erklärt hatten, beschloss die beklagte Arbeitgeberin, vorsorglich erneut Kündigungen auszusprechen. Sie unterrichtete den Betriebsrat und teilte mit, dass es bei der Betriebsstillegung bleiben solle. Der Betriebsrat unterbreitete daraufhin Vorschläge zur Vermeidung von Entlassungen.

Daraufhin erstellte die Arbeitgeberin eine Präsentation, auf deren Basis Verhandlungen mit einer vom Betriebsrat entsandten Verhandlungskommission stattfanden. Die Präsentation enthielt u.a. Angaben zu den Vorschlägen des Betriebsrats mit den Bereichen Neueröffnung des Betriebs mit allen rückkehrwilligen Beschäftigten, Senkung der Personalkosten, insbesondere im Hinblick auf die tarifliche Besitzstandszulage, deren Mehrkosten mit 45,5% beziffert wurden. Auch wurden die zeitlichen Rahmenbedingungen einer tariflichen Absenkung der Personalkosten und eine Reduzierung der Personalkosten durch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit behandelt.

Eine Einigung über die “Wiedereröffnung” des Betriebs wurde nicht erzielt. Die beklagte Arbeitgeberin antwortete mit Schreiben vom 26. Juni 2015, sie sehe keine Grundlage für ernsthafte Gespräche über die Wiedereröffnung des Betriebs und habe sich deshalb entschlossen, die Kündigungen zu wiederholen. Am gleichen Tag reichte sie übereinstimmende Massenentlassungsanzeigen bei den Agenturen für Arbeit in Cottbus und Berlin ein. Darin teilte sie mit, dass sich der “offizielle Betriebssitz” in Schönefeld befunden habe, während der überwiegende Teil der Arbeitnehmer vor der Betriebsstilllegung am Flughafen Tegel in Berlin beschäftigt gewesen sei. Nach einer internen Abstimmung der Agenturen für Arbeit traf wiederum diejenige in Cottbus die Entscheidung gemäß §§ 18, 20 KSchG (Kündigungsschutzgesetz).

Die beklagte Arbeitgeberin kündigte mit Schreiben vom 27. Juni 2015 erneut das Arbeitsverhältnis der Mitarbeiterin, nun zum 31. Januar 2016.

Die Mitarbeiterin wandte sich gegen diese Kündigung mit einer Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht. Das Verfahren zur ersten Kündigung vom Januar 2015 war zu diesem Zeitpunkt rechtskräftig zu ihren Gunsten entschieden. Auch die zweite Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Die Entscheidung zur Betriebsstillegung sei rechtsmissbräuchlich. Die Stilllegung stelle den langgeplanten Versuch dar, sich der teuren Altbeschäftigten zu entledigen. Die Aufträge der Fluggesellschaften seien lediglich innerhalb der W-Gruppe verschoben worden. Der Betriebsrat sei zu keinem Zeitpunkt ausreichend über die Gründe für die geplanten Entlassungen unterrichtet worden. Die in der Massenentlassungsanzeige enthaltenen Angaben zum Betriebssitz seien unzutreffend. Falls sich die Kündigung als wirksam erweisen sollte, habe die Mitarbeiterin zumindest Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Die beklagte Arbeitgeberin habe den Betriebsrat nicht rechtzeitig und nur unzureichend informiert, sich entgegen dem geschlossenen Vergleich nicht auf einen Vermittlungsversuch durch die Bundesagentur für Arbeit eingelassen und die Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs vorzeitig abgebrochen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Es gäbe keine tatsächlichen Anhaltspunkte, die gegen eine Betriebsschließung sprächen. Die Arbeitgeberin habe die Betriebsstilllegung auch tatsächlich umgesetzt. Der Arbeitsplatz der Mitarbeiterin in der Fluggastabfertigung sei bereits vor dem 31. März 2015 entfallen.

Auch für einen Rechtsmissbrauch gebe es keine ausreichenden Anhaltspunkte. Die vorliegende Gestaltung, dass der einzige Auftraggeber der Arbeitgeberin, der zugleich ihr Gesellschafter sei, ihrem Subunternehmer sämtliche Aufträge kündige und dadurch die Betriebsschließung der Arbeitgeberin unumgänglich sei, da diese am Markt nicht als eigenständiges Unternehmen auftreten könne, möge zwar “ausgeklügelt” sein, doch nicht jede kreative Nutzung von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten stelle zugleich auch eine rechtsmissbräuchliche Ausnutzung dar. Dass hinter alledem bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise die W.-Gruppe stehen möge, könne so sein, entziehe sich aber einer Sanktionierung an Hand konkreter rechtlicher Maßstäbe.

Im Zusammenhang mit der ersten Kündigung sei der Betriebsrat über die Gründe der Stilllegung informiert worden. Ebenso wurden die erforderlichen Sozialdaten der Betroffenen mitgeteilt. Die Kündigung sei nach $ 102 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) wirksam.

Entgegen der Ansicht der Mitarbeiterin hätte die beklagte Arbeitgeberin auch unter Berücksichtigung von § 17 Absatz 3a KSchG nicht sämtliche wirtschaftlichen Hintergründe der getroffenen Entscheidungen, insbesondere die Kalkulationsgrundlagen der Vergütungen der Gesamtaufträge und deren Aufteilung sowie die maßgeblichen Änderungen seit Abschluss des Tarifvertrages zur Besitzstandssicherung mitzuteilen.

Die Arbeitgeberin müsse mit dem Betriebsrat Möglichkeiten beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und deren Folgen abzumildern. Hierzu müssten ernsthafte Verhandlungen angeboten werden. Die Pflicht zur Unterrichtung über die Gründe der geplanten Entlassungen solle den Betriebsrat in die Lage versetzen den Sachverhalt zu kennen, der die Arbeitgeberin dazu veranlasst habe, anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, um darüber mit der Arbeitgeberin zu beraten. Die Arbeitgeberin müsse den Betriebsrat so genau unterrichten, dass dieser ohne weitere eigene Nachforschungen die tatsächlichen Gründe der Entlassungen kenne.

Der Betriebsrat solle konstruktive Vorschläge in den Verhandlungen unterbreiten können. Dazu bedürfe es aber nicht der Mitteilung der wirtschaftlichen Einzelheiten bis ins Detail. Ausreichend sei es, diese in groben Zügen zu umreißen. Das Konsultationsverfahren diene nicht dazu, dem Betriebsrat die Möglichkeit einer Art betriebswirtschaftlicher Beratung zu eröffnen oder über eine bessere betriebswirtschaftliche Kalkulation und die wirtschaftlichen Grundlagen der Unternehmensführung zu beraten.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legte die Mitarbeiterin Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Die beklagte Arbeitgeberin habe nicht dargelegt, auf welcher Ebene des W.-Konzerns wer aus welchen Gründen die Entscheidung getroffen habe, die lediglich formalrechtlich verselbständigte Betriebsabteilung “Passagierdienstleistungen am Flughafen Tegel” künftig bei der Aufteilung der Gesamtaufträge der Fluggesellschaften gar nicht mehr zu berücksichtigen und diese Aufträge vor allem über andere W.-Unternehmen abzuwickeln. Dem Betriebsrat müssten sehr wohl sämtliche wirtschaftlichen Hintergründe der getroffenen Entscheidungen mitgeteilt werden. Nur wenn die Verteilung der Gesamtentgelte von den Fluggesellschaften mitgeteilt worden wären, hätte der Betriebsrat die Entgeltverzichte der Beschäftigten ernsthaft beraten können.

Ergebnisoffene Verhandlungen über Alternativen zur geplanten Betriebsänderungen seien mangels Mitteilung der konzerninternen Gründe nicht möglich gewesen. Wenn aber der Betriebsrat nicht über die Informationen verfüge, um Alternativen zur Betriebsschließung aufzuzeigen, könnten die Verhandlungen auch noch nicht objektiv gescheitert sein.

Die Mitarbeiterin beantragte beim LAG die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom Juni 2015 nicht aufgelöst worden ist und die Mitarbeiterin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weiter zu unveränderten Arbeitsbedingungen zu beschäftigen. Hilfsweise sei eine Abfindung in Höhe von mindestens 12 Monatsgehältern zu zahlen.

Im November 2016 hat das LAG den Rechtsstreit ausgesetzt und im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Artikel 267 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verschiedene Fragen im Zusammenhang mit Artikel 2 Absatz 4 der sogenannten Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vorgelegt, insbesondere ob man von einem beherrschenden Unternehmen nur ausgehen könne, wenn der Einfluss über Beteiligungen und Stimmrechte abgesichert sei oder ob auch ein vertraglich bzw. faktisch abgesicherter Einfluss z.B. über Weisungsmöglichkeiten natürlicher Personen ausreichend sei.

Der EuGH entschied, unter einem “den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen ” sei jedes Unternehmen zu verstehen, das mit dem Arbeitgeber durch Beteiligungen an dessen Gesellschaftskapital oder durch andere rechtliche Verbindungen verbunden ist, die es ihm ermöglichen, einen bestimmenden Einfluss in den Entscheidungsorganen des Arbeitgebers auszuüben und ihn zu zwingen, Massenentlassungen in Betracht zu ziehen oder vorzunehmen.

Entgegen der bisherigen überwiegenden Ansicht in der Literatur komme es also nicht darauf an, dass die Beherrschung durch ein anderes Unternehmen im Rahmen des § 17 Absatz 3a KSchG gesellschaftsrechtlich abgesichert ist. Es genüge auch eine sonstige rechtliche Abhängigkeit. Darunter sei etwa ein Unternehmen zu verstehen, dass mit der Arbeitgeberin durch Beteiligungen an deren Gesellschaftskapital oder durch andere rechtliche Verbindungen verbunden ist, die es ihm ermöglichen, einen bestimmenden Einfluss in den Entscheidungsorganen der Arbeitgeberin auszuüben und sie zu zwingen, Massenentlassungen in Betracht zu ziehen oder vorzunehmen.

Letztlich könne die Frage der Existenz und der Ausgestaltung der Treuhandverträge jedoch dahinstehen, weil die beklagte Arbeitgeberin den bei ihr gebildeten Betriebsrat ausreichend konsultiert habe.

Es gebe zunächst keine Beschränkung der Informationsansprüche des Betriebsrates und entsprechender Vorschlagsrechte. Allerdings setzten Konsultationen voraus, dass auf jeweilige Positionen und Argumente der anderen Seite eingegangen wird. An diesem Gesprächsverlauf habe sich auch die Informationstiefe des § 17 Absatz 2 Satz 1 KSchG zu orientieren.

Der Betriebsrat oder seine Verhandlungskommission hätten jedoch nicht aufgezeigt, wie die Absenkung der Vergütung – unabhängig von der Höhe, für die allein die geforderten wirtschaftlichen Informationen erforderlich gewesen wären – tatsächlich erreicht werden könne. Dass ein Arbeitgeber in einer solchen Situation die Entscheidung trifft, die Konsultationen würden nicht zu einem einvernehmlichen Ergebnis führen, erschien der Kammer nachvollziehbar. Insofern seien die einseitige Beendigung der Konsultationen mit dem Betriebsrat durch die beklagte Arbeitgeberin nicht zu beanstanden.

Der Hilfsantrag zur Zahlung eines Nachteilsausgleiches sei unbegründet. Zwar habe die beklagte Arbeitgeberin mit der Betriebsstilllegung eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 Satz 3 Nummer 1 BetrVG geplant. Sie habe sich jedoch vor deren Durchführung ausreichend um einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat bemüht. Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich bestehe nicht, wenn die Betriebsparteien vor Beginn der Betriebsänderung einen Interessenausgleich vereinbaren oder der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats in dem Einigungsstellenverfahren erfüllt wird.

Eine Revision zu diesem Urteil wurde nicht zugelassen.