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Untersagung von Kündigungen vor Abschluss des Interessenausgleiches

Untersagung von Entlassungen während laufender Verhandlungen über Interessenausgleich

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.03.2015, Aktenzeichen 20 BVGa 768/16

Sind die Sicherungs- und Beratungsansprüche des Betriebsrats gefährdet, kann eine gerichtliche Sicherungsverfügung erlassen werden. Dabei kann der Arbeitgeberin auch der Ausspruch von Kündigungen untersagt werden, wenn dies zur Sicherung der Ansprüche erforderlich ist.

Mit einer einstweiligen Verfügung wurde der Arbeitgeberin der Ausspruch geplanter Kündigungen bis zum Abschluss von Interessenausgleichverhandlungen untersagt, längstens jedoch für einen Zeitraum von 4 Wochen.

Ein wichtiger Kunde der Arbeitgeberin kündigte zum 15. April 2016. Die Arbeitgeberin informierte am 18.Februar den Betriebsrat, im Bereich des technischen Supports seien 56 Entlassungen geplant. Gleichzeitig übersandte die Arbeitgeberin den Entwurf einer Massenentlassungsanzeige und schlug mehrere Termine für Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan für Ende Februar vor. Schließlich wurde für den 8.März ein Termin vereinbart.

Der Betriebsrat forderte die Arbeitgeberin auf, Entlassungen zu unterlassen, bis ein Interessenausgleich erzielt worden sei. Daraufhin sagte die Arbeitgeberin zu, bis zum 8.März keine Entlassungen vorzunehmen.

Der Betriebsrat fürchtete jedoch, die Arbeitgeberin könnte ab dem 08. März Kündigungen aussprechen. Auf Betriebsratssitzungen am 29. Februar und 2.März wurde deshalb beschlossen, vorsorglich beim Arbeitsgericht das vorliegende Verfahren einzuleiten und die jetzige Verfahrensbevollmächtigte mit der Durchführung zu beauftragen.

Mit der einstweiligen Verfügung solle erreicht werden, dass die Arbeitgeberin vor Beendigung der Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan keine Kündigungen ausspricht. Nur mit der Durchsetzung des Unterlassungsanspruches bei geplanter Betriebsänderung könnten die Regelungen des §§ 111 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) kollektivrechtlich gesichert werden.

Die Arbeitgeberin hingegen vertrat die Auffassung, im Bereich des § 111 des BetrVG könne der Betriebsrat die Unterlassung von Kündigungen nicht verlangen.

Mit Beschluss vom 7.März gab das Arbeitsgericht Berlin dem Begehren des Betriebsrats statt und verfügte die Unterlassungen von Kündigungen bis zum Abschluss der Verhandlungen über einen Interessenausgleich, längstens jedoch für vier Wochen. (Siehe Beitrag: Untersagung betriebsbedingter Kündigungen während Verhandlungen über Interessenausgleich)

Die Arbeitgeberin legte noch am gleichen Tag Beschwerde gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts ein. Dem Betriebsrat stehe kein Unterlassungsanspruch im Zusammenhang mit Betriebsänderungen zu. Der Betriebsrat sei in vollem Umfang informiert worden. Damit sei der Anspruch des Betriebsrats erfüllt. Der Betriebsrat missbrauche seine Beteiligungsrechte, um die Verhandlungen zu verzögern. Aus dem Verzicht auf Kündigungen bis zum 8.März könne nicht geschlossen werden, dass ab dem 9.März Kündigungen ausgesprochen würden.

Die Arbeitgeberin bezweifelte vorsorglich die ordnungsgemäße Beschlussfassung des Betriebsrats sowie die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten für dieses Verfahren.

In der Zwischenzeit leitete die Arbeitgeberin ein Beschlussverfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle vor dem Arbeitsgericht Berlin ein. Mit Beschluss vom 11.März 2016 wurde die Einigungsstelle zur Verhandlung über einen Interessenausgleich und Sozialplan eingesetzt.
 
Die Arbeitgeberin beantragte vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) die Zurückweisung der Anträge des Betriebsrats.

Der Betriebsrat beantragte die Abweisung der Beschwerde der Arbeitgeberin und die Untersagung von Kündigungen bis zum 31.Mai 2016 auszuweiten, da die im Beschluss festgesetzte Zeit zu kurz bemessen sei.

Das LAG urteilte, der Antrag des Betriebsrats sei zulässig, aber nur soweit begründet, wie ihm das Arbeitsgericht entsprochen habe.

Sämtliche Fragen im Zusammenhang mit Ansprüchen aus einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG stellten eine Angelegenheit aus dem Betriebsverfassungsgesetz nach § 85 Absatz 2 ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) dar.

Der Beschluss des Betriebsrats sei wirksam. Die Einleitung des vorliegenden Verfahrens wäre ohne wirksamen Beschluss des Betriebsrats und die Bevollmächtigung seiner Verfahrensbevollmächtigten gar nicht möglich gewesen. Der Betriebsrat habe beschlussfähig mit mehr als der Hälfte aller Mitglieder durch Abstimmung eine einheitliche Willensbildung herbeigeführt.

Eine einstweilige Verfügung sei auch in Angelegenheiten der einstweiligen Beschlussfassung nach § 85 ArbGG zulässig.

Sind im Unternehmen in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt, habe der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für erhebliche Teile der Belegschaft nach sich ziehen, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit ihm zu beraten. Eine Betriebsänderung könne allein in der Entlassung von Arbeitnehmern bestehen.

Der Personalabbau von 52 von 149 Stellen erfülle die Voraussetzungen einer Betriebsänderung im Sinne von § 111 Satz 1 BetrVG und § 17 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 KschG (Kündigungsschutzgesetz).

Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 17 Absatz 2 Satz 1 KschG die Möglichkeit über die Vermeidung oder Einschränkung von Entlassungen zu beraten und ihre Folgen zu mindern. Daraus resultiere der zu sichernde Verfügungsanspruch zugunsten des Betriebsrats. Es handele sich um einen Personalabbau, der die Zahlen und Prozentangaben nach § 17 KschG erreiche. Allein weil eine Vielzahl von Arbeitnehmern entlassen werden soll, liege eine Betriebsänderung vor.

Eine Sicherungsverfügung könne erlassen werden, wenn die Unterrichtungs- und Beratungsansprüche des Betriebsrats gefährdet seien. Ein Verfügungsanspruch bestehe, da eine Beratung des Betriebsrats durch die Arbeitgeberin noch nicht stattgefunden habe.

Die Unterrichtungs- und Beratungsansprüche des Betriebsrats seien gefährdet, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Arbeitgeberin noch im März 2016 Kündigungen ausspreche.
Die Arbeitgeberin habe selbst vorgetragen, dass Kündigungen noch im März 2016 zugehen müssten.

In der Vergangenheit habe die Arbeitgeberin bereits versucht, Kündigungen auszusprechen, ohne den Betriebsrat vorher beraten zu haben. Die Arbeitgeberin wäre wohl nicht gegen den angefochtenen Beschluss in die Beschwerde gegangen, würde sie nicht den Ausspruch von Kündigungen vor dem 07. April 2016 beabsichtigen. Aus der Einrichtung der Einigungsstelle könne nicht geschlossen werden, dass die Arbeitgeberin bis zum Abschluss oder Scheitern der Interessenausgleichverhandlungen keine Kündigungen ausspreche.

Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin könnten Kündigungen nicht einseitig zurückgenommen werden. Eine einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung könne nur bis zu ihrem Zugang einseitig widerrufen werden. Deshalb könne eine Kündigung nach ihrem Zugang nicht mehr einseitig von der Arbeitgeberin zurückgenommen werden.

Ohne ordnungsgemäßes Konsultationsverfahren seien die Kündigungen nach § 131 BGB zwar unwirksam, aber nur, falls die Arbeitnehmer rechtzeitig Kündigungsschutzklage erheben. Sich ergebende Unwirksamkeiten der Kündigung oder ein den Arbeitnehmern zustehender Nachteilsausgleich seien keine Kompensation für den entstehenden Anspruchsverlust des Betriebsrats.

Nur die Untersagung des Ausspruchs von Kündigungen stelle ein geeignetes Mittel dar, um den Beratungsanspruch des Betriebsrats zu sichern. Das LAG schließe sich der Auffassung des Arbeitsgerichts an, dass die Untersagung für einen maximalen Zeitraum von 4 Wochen bis zum 07. April 2016 ausreiche.Bis zu diesem Zeitpunkt könne die Einigungsstelle eingesetzt werden und den Anspruch des Betriebsrats erfüllen.

Der Beschäftigungsbedarf für die betroffenen Arbeitnehmer entfalle ab dem 15. April. Danach könnten die Arbeitnehmer nicht mehr beschäftigt werden, seien aber zu vergüten. Unter der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Zwänge der Arbeitgeberin sowie dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit sei sicherzustellen, dass der Betriebsrat seine Beteiligungsrechte nicht zu einer ungerechtfertigten Verzögerung der Verhandlungen missbrauche.

Eine weitere Verlängerung könne der Betriebsrat auch nicht mit der Ankündigung gegen den Beschluss zur Einsetzung der Einigungsstelle Rechtsmittel einlegen zu wollen, begründen. Der Einsatz eines solchen Rechtsmittels könne unabhängig von dessen Erfolgsaussichten als reine Verzögerungstaktik angesehen werden, der das LAG nicht nachgeben wolle.

Für das Landesarbeitsgericht Berlin haben wir jetzt für mehrere Kammern Entscheidungen erwirkt, die die Sicherungsverfügung grundsätzlich für zulässig erachten. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Unterstützung der Betriebsräte in der Phase von Interessenausgleichsverhandlungen.