BLOG RECHTSPRECHUNG

Haustarifvertrag bei Unternehmensverschmelzung

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.06.2016, Aktenzeichen 4 AZR 805/14

Der Haustarifvertrag eines Unternehmens, das auf ein anderes Unternehmen verschmolzen wird, gilt beim bisher tariflosen aufnehmenden Unternehmen weiter.

Der Geltungsbereich im aufnehmenden Unternehmen erstreckt sich nicht nur auf die gewerkschaftlichen Mitarbeiter, für die der Haustarifvertrag bereits galt, sondern auch auf alle Gewerkschaftsmitglieder im aufnehmenden Unternehmen. Die Arbeitgeberin führte mit einem anderen Unternehmen einen gemeinsamen Betrieb. Das andere Unternehmen übertrug der Arbeitgeberin mit Verschmelzungsvertrag ihr ganzes Vermögen mit allen Rechten und Pflichten unter Auflösung ohne Abwicklung. Die Arbeitgeberin war nicht Mitglied in einem Arbeitgeberverband und hatte keinen eigenen Haustarifvertrag abgeschlossen.

Rund 11 Monate nach Unterzeichnung des Verschmelzungsvertrages teilte die IG Metall der Arbeitgeberin mit, für das Tarifgebiet Baden-Württemberg sei ein neuer Entgelttarifvertrag (EntgeltTV) vereinbart worden. Der Inhalt des Tarifvertrages wurde als Anhang übermittelt.

Die Arbeitgeberin antwortete in einem Schreiben ohne Datum, dass sie das Schreiben der IG Metall als gegenstandslos betrachte. Es bestehe keine originäre Tarifbindung mehr. An alle Beschäftigte der Arbeitgeberin wurde jedoch in der Folge der Monatslohn entsprechend den Tabellen des neuen Tarifvertrages gezahlt.

Die IG Metall vertrat die Auffassung, der Haustarifvertrag sei nicht nur auf ihre Mitglieder anzuwenden, die durch die Verschmelzung übernommen wurden. Sämtliche Mitglieder der IG Metall, die bei der Arbeitgeberin vor der Verschmelzung tätig waren, fielen ebenso unter den Geltungsbereich des Haustarifvertrages. Der Geltungsbereich des Haustarifvertrages erstrecke sich nun auf das gesamte Unternehmen der Arbeitgeberin. Da die Arbeitgeberin gegen die Mitteilung der Lohnerhöhung keinen ausdrücklichen Widerspruch im Sinne von § 7 Nr.1 des Haustarifvertrages eingelegt habe, seien die vereinbarten Lohnerhöhungen des Entgelttarifvertrages automatisch übernommen worden.

Die Arbeitgeberin habe die Lohnsteigerungen falsch berechnet, da die höheren Tabellenwerte nicht an die höhere Arbeitszeit angeglichen wurden.

Vor dem Arbeitsgericht beantragte die IG Metall die Feststellung, dass der Haustarifvertrag auch für diejenigen Mitglieder der Gewerkschaft gelte, die bereits vor dem 1. Januar 2014 ein Arbeitsverhältnis bei der Arbeitgeberin hatten und zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der Gewerkschaft waren.

Es sei weiterhin festzustellen, dass die Arbeitgeberin verpflichtet sei, den Tarifvertrag der Elektro- und Metallindustrie für Baden-Württemberg vom 16. Mai 2013 für ihre Beschäftigten anzuwenden, die bereits zum 31.Dezember 2013 Mitglied der IG Metall waren und noch immer sind und deren Arbeitsverhältnis vor dem 01. Januar 2014 begann.

Die Arbeitgeberin erwiderte in ihrem Klageabweisungsantrag, sie sei nach der Verschmelzung im Verhältnis zu den übernommenen IG Metall Mitgliedern durch den Haustarifvertrag gebunden. Diese Bindung bestehe jedoch nicht gegenüber Mitgliedern der IG Metall, die bereits bei ihr beschäftigt waren bzw. nachfolgend neu eingestellt wurden. Aus der Gesamtrechtsfolge ergebe sich nicht eine solche Infizierung ihres gesamten Unternehmens mit dem Haustarifvertrag.

Es sei nicht gerechtfertigt, den Geltungsbereich des Tarifvertrages auf einen unbeteiligten Dritten auszuweiten. Hierdurch werde ihre negative Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Absatz 3 GG (Grundgesetz) sowie ihre sich aus der europäischen Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG in Verbindung mit Artikel 16 der Grundrechtecharta ergebenden Rechte verletzt. Einer automatischen Übernahme des Tarifabschlusses habe sie rechtzeitig im Sinne von § 7 Nr. 1 des Haustarifvertrages widersprochen. Es seien zudem alle Lohnerhöhungen aus dem Entgelttarifvertrag an alle Arbeitnehmer weitergegeben worden.

Das Arbeitsgericht gab der Klage der IG Metall statt. Das Landesarbeitsgericht (LAG) hob das Urteil des Arbeitsgerichts auf und wies die Klage ab. Mit der Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) begehrte die IG Metall die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.

Das BAG stellte fest, die Revision sei teilweise begründet. Durch die Verschmelzung sei die Arbeitgeberin in die Stellung des übernommenen Unternehmens eingetreten. Die sich aus dem Haustarifvertrag ergebenden Rechte und Pflichten gälten nun für sie selbst. Damit seien alle vor dem 1. Januar 2014 mit der Beklagten begründeten Arbeitsverhältnisse derjenigen Arbeitnehmer erfasst, die bereits am 31. Dezember 2013 bei der IG Metall Mitglied waren und es noch immer sind.

Die Geltung des Entgelttarifvertrages für bestimmte Arbeitsverhältnisse der Arbeitgeberin feststellen zu lassen sei jedoch unzulässig.

Im Hauptantrag der Revisionsbegründung erstrecke sich zulässigerweise der Feststellungsantrag nicht mehr auf alle bei der Arbeitgeberin beschäftigten IG-Metall Mitglieder, sondern diejenigen, die bereits vor dem 01. Januar 2014 Mitglied der Gewerkschaft waren.

Die Geltungsdauer des Haustarifvertrages bis zum 31. Dezember 2013 stehe der Zulässigkeit der Verbandsklage nicht entgegen. Auch bei einer nur nachwirkenden Geltung des Tarifvertrags (§ 9 Nr. 1 Satz 2 Haustarifvertrag) wäre die Arbeitgeberin verpflichtet, die ihm unterfallenden Arbeitsverhältnisse nach seiner Maßgabe durchzuführen, bis eine andere Abmachung die Nachwirkung abgelöst hat.

Der Antrag zum Entgelttarifvertrag sei weder als Verbandsklage noch als Feststellungsklage zulässig. Die IG Metall wolle mit diesem Antrag lediglich die Anwendung des Entgelttarifvertrages sichern, ohne die zwischen den Parteien tatsächlich streitigen Modalitäten dieser Anwendung einer gerichtlichen Klärung zuzuführen. Die beantragte Feststellung betreffe nicht die Gültigkeit oder Auslegung eines Tarifvertrages oder einer Tarifnorm.

Die Anwendbarkeit eines bestimmten Tarifvertrags oder Tarifwerks könne grundsätzlich Gegenstand einer Feststellungsklage sein. Ein Feststellungsinteresse sei nach der Rechtsprechung des BAG aber nur gegeben, wenn durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag der Streit insgesamt beseitigt wird und das Rechtsverhältnis der Parteien abschließend geklärt werden kann. Könne durch die angestrebte Entscheidung kein Rechtsfrieden geschaffen werden, ist diese unzulässig. Die Parteien stritten nicht nur über die automatische Übernahme der Lohnerhöhungen des Entgelttarifvertrages, sondern auch wie genau eine solche Übernahme rechnerisch bei unterschiedlichen Arbeitszeiten im anerkennenden und anerkannten Tarifvertrag zu erfolgen hätte. Somit drohten im Hinblick auf die zutreffende Vergütung weitere gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen den Parteien.
 
Die Arbeitgeberin sei durch ihre Rechtsnachfolge Tarifvertragspartei des Haustarifvertrages geworden, mit allen Rechten und Pflichten. Mit der Eintragung der Verschmelzung in das Handelsregister sei die Arbeitgeberin als aufnehmendes Unternehmen im Wege der Universalsukzession in die Stellung als Tarifvertragspartei des HTV eingetreten. Der aufnehmende Rechtsträger trete unmittelbar in die Rechtsposition des verschmolzenen Rechtsträgers genau in der Art und Weise ein, wie sie im Zeitpunkt der Eintragung der Verschmelzung bestand.
So gingen etwa sowohl vom verschmolzenen Rechtsträger erteilte Vollmachten an Dritte als auch diesem von Dritten erteilte Vollmachten auf den aufnehmenden Rechtsträger über. Aus öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen eingeräumte Rechte und Pflichten, zum Beispiel Auflagen und Genehmigungen, werden von der Gesamtrechtsnachfolge grundsätzlich erfasst.

Der Firmentarifvertrag sei wie jeder andere Vertrag zu beurteilen. Die Gesamtrechtsnachfolge bewirke seine umfassende kollektivrechtliche (dynamische) Fortwirkung und damit ein Eintreten des aufnehmenden Unternehmens in alle sich aus einem Firmentarifvertrag des verschmolzenen Unternehmens ergebenden Rechte und Pflichten aus betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen.

Um die übergegangenen Rechte und Pflichten näher zu bestimmen, sei bei einem Firmentarifvertrag gedanklich die Bezeichnung des verschmolzenen Unternehmens jeweils durch diejenige des aufnehmenden Unternehmens zu ersetzen.

Der Geltungsbereich des Haustarifvertrages erstrecke sich nicht nur auf die bisher im übernommen Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer, sondern erfasse auch alle Arbeitnehmer, die bei der Arbeitgeberin vor dem 01. Januar 2014 beschäftigt und die am 31. Dezember 2013 Mitglied der Gewerkschaft IG Metall waren und noch sind.

Durch die Verschmelzung habe eine Anpassung des Haustarifvertrages stattgefunden, wonach die Arbeitgeberin an den Haustarifvertrag gebunden ist, als hätte sie ihn selbst abgeschlossen. Der Haustarifvertrag enthalte auch keine Beschränkungen der Tarifgeltung nur für die übernommenen Gewerkschaftsmitglieder. Der Haustarifvertrag gelte für alle bei der Arbeitgeberin beschäftigten Arbeiter, Angestellte und Auszubildende, die Mitglied der IG Metall sind. Es komme keine Auslegung des Geltungsbereiches in Betracht, die nur einen bestimmten Teil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer erfasst.

Der Geltungsbereich der tarifvertraglichen Regelung sei eindeutig auf das Unternehmen, nicht nur einen Betrieb bezogen. Soweit der Geltungsbereich sich ausdrücklich und ohne Einschränkung auf die Arbeitnehmer des tarifvertragschließenden Arbeitgebers erstrecke, erfasse er jeweils nicht nur die aktuellen tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse, sondern, neben danach begründeten Arbeitsverhältnissen, auch die Arbeitnehmer später hinzukommender Betriebe der Arbeitgeberin.